Bahnhofshalle mit Bodenkunstwerk von Daniel Buren

Daniel Buren – Hundert­wasser, Hack und die Grenzen der Kreativität

Mein Studium in Lüneburg war eine einzige Tragödie. Sie begann in der Mensa: Weil die Umweltwissenschaftler*innen bio-vegan-vegeta­ri­sches Show-Cooking – before it was cool! – durch­ge­setzt hatten, reichte das Verpfle­gungs­budget für die Carni­voren bloß für das Nötigste. Es gab fünf Mal pro Woche Hackbraten: mit Zwiebeln, mit Kräutern, mit brauner Sauce, mit Oliven und ohne alles. Manchmal wurde der Braten auch zu einer Bolognese zermahlen, die das Zeug dazu hatte, das deutsch-italie­ni­sche Verhältnis nachhaltig zu beschä­digen. Vor allem aber war Lüneburg ewig weit weg: Man überholte zwei Stunden lang unentwegt Rüben­laster, und die Dörfer entlang der Landstraße waren mit Blitzern gespickt wie ein Mettigel mit Salzstangen – ja, ich habe seit damals ein Hack-Trauma.

Das vollendete Grauen war jedoch die Anreise mit der Bahn. Und Schuld daran trug (auch) Friedens­reich Hundert­wasser. Der hatte es bekannt­lich mit Farben und Mustern, aber nicht so mit geraden Flächen. Das macht die Grüne Zitadelle in Magdeburg zur Touris­ten­at­trak­tion, den Bahnhof Uelzen jedoch zum poten­zi­ellen Hotspot für Oberschen­kel­hals­brüche: Ergraute Kegel­brüder aus Immensen-Arpke und betagte Landfrauen aus Schöne­wörde stolperten damals regel­mäßig über die Hundertwasser’schen Boden­wellen im Tunnel, der die Bahnsteige mitein­ander verband; Gleis­wechsel, Zugver­spä­tungen und Rollkoffer mit Eigen­leben sorgten für zusätz­liche Dramatik.

Ausgang des Bahnhofs mit Bodenkunstwerk von Daniel Buren
© MSCG

Es gibt eben Bereiche, in denen allzu viel Kreati­vität schadet. Man stelle sich einen Fernseher vor, für den Thomas Mann die 876 Seiten lange Bedie­nungs­an­lei­tung geschrieben hat; oder einen Baller­mann-Hit in latei­ni­scher Sprache aus der Feder von Georg Friedrich Händel. Nein, wo schiere Praxis­taug­lich­keit – also Verständ­lich­keit bezie­hungs­weise Mitsingbar­keit unabhängig vom Alkohol­spiegel – gefragt ist, ordnet sich die Form dem Nutzen unter. Doch in seltenen Fällen ist sogar eine ästhe­tisch-funktio­nale Gleich­be­rech­ti­gung möglich: wie beim Boden­kunst­werk von Daniel Buren im Wolfs­burger Hauptbahnhof.

Dem*Der Durch­rei­senden erscheint die Arbeit als Leitsystem. Und tatsäch­lich kann man die Streifen als Pfeil­sym­bole auffassen, die den Weg durch die Station weisen. Bei genauem Hinschauen jedoch erhebt sich das Boden­kunst­werk über die – durchaus vorhan­dene – Nutzbar­keit. Seine Ästhetik entwi­ckelt sich aus seinem klaren geome­tri­schen Prinzip. Daniel Buren identi­fi­zierte dazu zunächst die Zahl fünf als größtes gemein­sames Vielfa­ches der 40 Meter breiten und, mit Tunnel, 65 Meter langen Bahnhofs­halle. Aus ihr leitete der franzö­si­sche Künstler schließ­lich das Grund­raster ab: So ist eine anthra­zit­far­bene Feinstein­zeug­fliese immer 45 mal 45 Zenti­meter groß, ein weißer Streifen stets neun Zenti­meter breit – also genau ein Fünftel.

Mit diesem Wissen lassen sich die vermeint­li­chen Pfeile plötzlich als Begren­zung von auf den Kopf gestellten Quadraten begreifen. Und sie spielen mit dem Licht, das durch die Fenster­front des Bahnhofs­ge­bäudes fällt. Gerade der starke Kontrast von Weiß und Anthrazit macht dieses Schat­ten­spiel so reizvoll und verändert die Wahrneh­mung des Haupt­bahn­hofs je nach Tageszeit. Das Boden­kunst­werk ordnet sich damit in eine recht junge Kunstform ein, die sogenannte site-specific art. Im Gegensatz zu konven­tio­nellen Skulp­turen befinden sich diese Werke nicht dort, wo gerade Platz ist; sie sind spezi­fisch für einen Ort gemacht, in dem sie aufgehen und ihn zugleich transformieren.

Diese Trans­for­ma­tion ist im Falle des Boden­kunst­werks nicht bloß räumlich zu verstehen. Daniel Burens Arbeit, die er 2005 fertig gestellt hat, ist Ausgangs­punkt für einen weiteren Wandel: Der Wolfs­burger Haupt­bahnhof heißt inzwi­schen Kunst-Station, denn neben Zügen machen hier auch regel­mäßig Kultur­schaf­fende mit ihren Arbeiten halt. So beginnt jede Bahnreise mit einem Galerie­be­such – und mündet in ein Großraum­ab­teil mit Mettbröt­chen kauenden Mitreisenden.

Alexander Kales

Titelbild: © WMG, Foto: mscg

(Ausgabe 12, Winter 2020)

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