Rudel und Einzeltiere streifen zunehmend auch durch Wolfsburgs Wälder
und Felder. Angst haben muss deswegen aber niemand
Und wieder klingelt das Handy. „Tut mir leid“, sagt Ralf Hentschel, „da bin ich mit dem Infostand schon in Mecklenburg-Vorpommern.“ Kurz drauf, die Presse: Ob es schon neue Erkenntnisse zum Schafriss in Velstove gebe. Der Wolfsburger verweist kurz aufs Niedersächsische Umweltministerium, trinkt dann einen Schluck vom inzwischen kalten Kaffee und erklärt: „Für den Wolf interessieren sich inzwischen sehr viele Menschen.“ Als Wolfsberater und Vorsitzender des Freundeskreises freilebender Wölfe ist Hentschel daher ein gefragter Mann.
In dieser Doppelfunktion vertritt der 50-Jährige zwei gegensätzliche Positionen: Als vom Land Niedersachsen eingesetzter Experte ist es seine Aufgabe, Nutztierhalter*innen bei der Sicherung ihrer Herden zu unterstützen, Schäden durch Wölfe zu dokumentieren sowie Sichtungen zu untersuchen und zu melden; als Vereinschef hat er sich dagegen dem Schutz der wachsenden Populationen und der damit einhergehenden Öffentlichkeitsarbeit verschrieben. „Das hilft mir – bei aller Faszination für die Tiere – neutral zu bleiben“, sagt der Wolfsburger.
Das ist gerade in Sachen Wolf unbedingt nötig. Denn der Neuling in Deutschlands Wäldern polarisiert: Für die einen ist ein wiedergekehrtes Stück Wildnis, das sie natürlich unbedingt zu Gesicht und am allerliebsten vor die Kamera bekommen möchten. „Sobald in den Zeitungen über eine Wolfsichtung berichtet wird, ist vor Ort teilweise der Teufel los. Denn viele möchten die Tiere sehen und fotografieren“, weiß Hentschel aus Erfahrung. Manche versuchen sogar, die Wölfe mit Futter anzulocken. Weil sie dadurch ihre Scheu vor dem Menschen verlieren, steigt das Risiko möglicher Übergriffe.
Auf genau dieses Gefahrenpotential reduzieren die anderen den Wolf: Vor allem Nutztierhalter*innen und Teile der Jäger*innenschaft sehen im Raubtier eine Tötungsmaschine, die am besten ganzjährig und ausnahmslos zum Abschuss freigegeben werden sollte. Zudem trägt sich nach einem Angriff auf Weidetiere schnell die Furcht in die benachbarten Gemeinden: In Velstove etwa, wo ein vorbeiziehender Wolf im April vier Schafe tötete, fürchteten einige alsbald um die Sicherheit der Kinder in der nahegelegenen Kita. Fakt aber ist: Der Wolf ist kein mordlustiger Killer – und hat am liebsten seine Ruhe.
In Wolfsburg wird er deswegen auch nicht heimisch werden. „Im Stadtwald oder Drömling sind zu viele Wanderer*innen und Radfahrer*innen unterwegs, als dass er hier ein Revier finden würde“, erläutert der Wolf-Experte. Dafür gibt es in der Nachbarschaft gleich drei Rudel: eines im 17 Kilometer entfernten Ehra-Lessien, die anderen beiden 35 beziehungsweise 55 Kilometer weit weg in Klötze und in der Letzlinger Heide; für Wolfverhältnisse ist das, quasi, ein Katzensprung. Geschlechtsreife Jungtiere überwinden auf der Suche nach eigenen Revieren sogar noch weitaus größere Distanzen; der im Januar auf der A39 bei Mörse überfahrenen Rüde stammte aus einer Gruppe, die im rund 200 Kilometer entfernten Bremen zu Hause ist.
Das zeigt auch, dass der ursprünglich aus Osteuropa eingewanderte Wölfe auch im Westen Deutschlands wieder heimisch wird. So wurden 2018 bundesweit 73 Rudel gezählt – ein Fünftel mehr als im Vorjahr; in Niedersachsen hat sich die Anzahl der Wolfsgruppen im Laufe des vergangenen Jahres sogar um fast 50 Prozent auf 22 Familien erhöht. „Die Wahrscheinlichkeit, in Wolfsburg einem Wolf zu begegnen, steigt also“, fasst Ralf Hentschel zusammen. Seitdem im Jahr 2013 erstmals vereinzelt Wolfspuren entdeckt wurden, werden dem Naturschützer teilweise mehrmals pro Woche echte oder vermeintliche Sichtungen gemeldet – jedoch nur aus der Ferne.
„Wirklich nah kommt man den Tieren nämlich in der Regel nicht“, beruhigt der Wolfsberater. Wenn doch, empfiehlt der Experte selbstbewusst aufzutreten: groß machen, breitbeinig hinstellen, klatschen und laut rufen. „Der Wolf sieht im Menschen keine Beute“, so Hentschel.
„Und er ist auch ganz sicher nicht der Bösewicht, den wir aus den Märchen kennen, sondern in Sachen familiäres Miteinander sogar ein Vorbild.“
Henschel
Alexander Kales
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DEIN WOLFSBURG, 2019