Ich bin ein Berliner, München mag mich – und Wolfsburg hat WOB
„Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, heißt es im Volksmund. Davon kann ich ein Lied singen; oder besser gesagt: spielen. Denn als junger Klavierschüler gab ich mit Aufklappen des Tastendeckels jedwedes Recht auf Selbstbestimmung ab. Gespielt wurde, was meine Lehrerin in den Musikbuchhandlungen Osteuropas entdeckte und als technisch fordernd genug erachtete. Während die Gitarre spielenden Jungs im Freundeskreis sich mit „Killing me softly“ in die Herzen der Mädchen schrammelten, vertrieb ich sie zielsicher mit Etüden in cis-Moll über fünf Oktaven. Selbst meine Eltern mussten erstaunlich oft dringend einkaufen fahren, wenn das Auto meiner Klavierlehrerin quietschend vor der Haustür hielt.
Doch jedes Mal, wenn ich ein für alle Mal die Noten hinschmeißen wollte, blitzte in mir dieser eine Satz der Werbelegende Jacques Séguéla auf: „Sag meiner Mutter nicht, dass ich in der Werbung arbeite. Sie glaubt, ich bin Pianist in einem Bordell.“ Diese Möglichkeit der Tarnung wollte ich mir offenhalten. Denn die Werbebranche war für mein Teenager-Ich ein Sehnsuchtsort wie für Gleichaltrige die Großraum-Diskotheken im Wolfsburger Umland. Dazu muss man wissen: Ich bin in einer Zeit groß geworden, als Werbung wahre Kunst war; als im Kreativitätsolymp das Verrückte Huhn die Toyota-Brüllaffen und der Melitta-Mann mit den Aroma-Poren ersonnen wurden; und unsere Stadt mit „Wolfsburg hat WOB“ für sich warb.
Ja, das ist das Autokennzeichen. Und jetzt? Zugegebenermaßen erkenne ich bis heute keinen tieferen Sinn in dieser Aussage. Dafür ist in mir die Erkenntnis gereift, dass die meisten kommunalen Werbebotschaften wahlweise banal oder Banane sind. Da wäre etwa das passiv-aggressive „München mag Dich“, dass mich moralisch zwingt, es wenigstens ein bisschen „zurückzumögen“. Oder die homöopathische Änderung von John F. Kennedys berühmtem „Ich bin ein Berliner“, die sich unsere Bundeshauptstadt kürzlich 1,5 Millionen Euro kosten ließ: Mit „Wir sind ein Berlin“ wirbt man dort, flankiert vom Berliner Bär, der eigentlich schon in Rente war.
Der braune Zottel hat nämlich mehr Lenze auf dem felligen Buckel als seine Heimatstadt selbst: Die älteste bekannte Darstellung datiert auf das späte 13. Jahrhundert; vermutlich ist er aber schon seit Anfang des 12. Jahrhunderts als Wappentier von Albrecht I. – genannt „Der Bär“ – im Einsatz, dem Lehensherrn der Mark Brandenburg. Auf dem Weg in die Neuzeit verlor Meister Petz sein Halsband und mit Ankunft in Wolfsburg auch die sprichwörtlichen Krallen. Fast ein wenig scheu steht er seit 1992 dort, wo die Reislinger Straße in den Berliner Ring mündet; beobachtet aus einem Vorgarten der Neuland-Immobiliengesellschaft heraus den Schichtverkehr und das Schillerteichcenter und träumt von einem großen Glas Honig.
Dass das rund eineinhalb Meter große Raubtier aus braunem Sandstein so liebevoll, so friedlich, so sanftmütig wirkt, erklärt die Biografie seines Schöpfers: Der 1927 in Masuren geborene und 2011 in Kampen verstorbene Architekt und Bildhauer Anatol Buchholtz widmete sein Leben nicht nur der Kunst, sondern in gleichem Maße dem Wohl von Tieren und Umwelt. In seiner späteren Heimat Sylt gründete er einen Tierschutzverein, kümmerte sich selbst hingebungsvoll um vernachlässigte Hunde und wurde dafür mit der Franz-von-Assisi-Medaille des Deutschen Tierschutzbunds ausgezeichnet. Während viele seiner übrigen Plastiken abstrakt und formstreng sind, kennzeichnen Buchholtz‘ Tierskulpturen zarte Rundungen und eine tiefe Wärme.
Sein Kragenbär in Braunschweig ist kein bedrohliches Raubtier; seine turtelnden Rehe nicht zur Flucht bereit; und beide lächeln sie wie der Wolfsburger Berliner Bär, der seine tapsigen Pfoten geradewegs zur felligen Umarmung öffnet. Es sind nicht die Tiere, die uns drohen. Des Menschen Wolf, das ist der Mensch.
Alexander Kales