Skulptur Berliner Bär in Wolfsburg

Der Berliner Bär von Anatol Buchholz

Ich bin ein Berliner, München mag mich – und Wolfsburg hat WOB

Lehrjahre sind keine Herren­jahre“, heißt es im Volksmund. Davon kann ich ein Lied singen; oder besser gesagt: spielen. Denn als junger Klavier­schüler gab ich mit Aufklappen des Tasten­de­ckels jedwedes Recht auf Selbst­be­stim­mung ab. Gespielt wurde, was meine Lehrerin in den Musik­buch­hand­lungen Osteu­ropas entdeckte und als technisch fordernd genug erachtete. Während die Gitarre spielenden Jungs im Freun­des­kreis sich mit „Killing me softly“ in die Herzen der Mädchen schram­melten, vertrieb ich sie zielsi­cher mit Etüden in cis-Moll über fünf Oktaven. Selbst meine Eltern mussten erstaun­lich oft dringend einkaufen fahren, wenn das Auto meiner Klavier­leh­rerin quiet­schend vor der Haustür hielt.

Doch jedes Mal, wenn ich ein für alle Mal die Noten hinschmeißen wollte, blitzte in mir dieser eine Satz der Werbe­le­gende Jacques Séguéla auf: „Sag meiner Mutter nicht, dass ich in der Werbung arbeite. Sie glaubt, ich bin Pianist in einem Bordell.“ Diese Möglich­keit der Tarnung wollte ich mir offen­halten. Denn die Werbe­branche war für mein Teenager-Ich ein Sehnsuchtsort wie für Gleich­alt­rige die Großraum-Disko­theken im Wolfs­burger Umland. Dazu muss man wissen: Ich bin in einer Zeit groß geworden, als Werbung wahre Kunst war; als im Kreati­vi­täts­olymp das Verrückte Huhn die Toyota-Brüll­affen und der Melitta-Mann mit den Aroma-Poren ersonnen wurden; und unsere Stadt mit „Wolfsburg hat WOB“ für sich warb.

Ja, das ist das Autokenn­zei­chen. Und jetzt? Zugege­be­ner­maßen erkenne ich bis heute keinen tieferen Sinn in dieser Aussage. Dafür ist in mir die Erkenntnis gereift, dass die meisten kommu­nalen Werbe­bot­schaften wahlweise banal oder Banane sind. Da wäre etwa das passiv-aggres­sive „München mag Dich“, dass mich moralisch zwingt, es wenigs­tens ein bisschen „zurück­zu­mögen“. Oder die homöo­pa­thi­sche Änderung von John F. Kennedys berühmtem „Ich bin ein Berliner“, die sich unsere Bundes­haupt­stadt kürzlich 1,5 Millionen Euro kosten ließ: Mit „Wir sind ein Berlin“ wirbt man dort, flankiert vom Berliner Bär, der eigent­lich schon in Rente war.

Der braune Zottel hat nämlich mehr Lenze auf dem felligen Buckel als seine Heimat­stadt selbst: Die älteste bekannte Darstel­lung datiert auf das späte 13. Jahrhun­dert; vermut­lich ist er aber schon seit Anfang des 12. Jahrhun­derts als Wappen­tier von Albrecht I. – genannt „Der Bär“ – im Einsatz, dem Lehens­herrn der Mark Branden­burg. Auf dem Weg in die Neuzeit verlor Meister Petz sein Halsband und mit Ankunft in Wolfsburg auch die sprich­wört­li­chen Krallen. Fast ein wenig scheu steht er seit 1992 dort, wo die Reislinger Straße in den Berliner Ring mündet; beobachtet aus einem Vorgarten der Neuland-Immobi­li­en­ge­sell­schaft heraus den Schicht­ver­kehr und das Schil­ler­teich­center und träumt von einem großen Glas Honig.

Dass das rund einein­halb Meter große Raubtier aus braunem Sandstein so liebevoll, so friedlich, so sanft­mütig wirkt, erklärt die Biografie seines Schöpfers: Der 1927 in Masuren geborene und 2011 in Kampen verstor­bene Architekt und Bildhauer Anatol Buchholtz widmete sein Leben nicht nur der Kunst, sondern in gleichem Maße dem Wohl von Tieren und Umwelt. In seiner späteren Heimat Sylt gründete er einen Tierschutz­verein, kümmerte sich selbst hinge­bungs­voll um vernach­läs­sigte Hunde und wurde dafür mit der Franz-von-Assisi-Medaille des Deutschen Tierschutz­bunds ausge­zeichnet. Während viele seiner übrigen Plastiken abstrakt und formstreng sind, kennzeichnen Buchholtz‘ Tierskulp­turen zarte Rundungen und eine tiefe Wärme.

Sein Kragenbär in Braun­schweig ist kein bedroh­li­ches Raubtier; seine turtelnden Rehe nicht zur Flucht bereit; und beide lächeln sie wie der Wolfs­burger Berliner Bär, der seine tapsigen Pfoten gerade­wegs zur felligen Umarmung öffnet. Es sind nicht die Tiere, die uns drohen. Des Menschen Wolf, das ist der Mensch.

Alexander Kales

Titelfoto: © WMG, Foto: JSG

(Ausgabe 13, Sommer 2021)

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