Ilkerbruch
Wie lässt sich das Ilkerbruch am besten beschreiben? Ein Plätzchen, wo fast den ganzen lieben langen Tag nichts Aufregendes passiert? Und das plötzlich, wenn man Glück hat, ein beeindruckendes Naturschauspiel zum Besten gibt? Man muss das Ilkerbruch mit eigenen Augen gesehen haben. Wir haben es getan.
Und dann ist die Tür zu und die Welt urplötzlich eine andere. Der Verkehr auf der Straße, die vielen Autos – nichts mehr davon zu sehen. Stattdessen Grün und Wasser. Eine kleine Insel. Und Vögel, die ein Bad nehmen und im Wasser fischen. Die ihr Gefieder trocknen, aufsteigen und um die Wette fliegen. Und da hinten, grasen da Auerochsen?
„Man steht hier wie auf einer Bühne und hat wirklich einen wundervollen Ausblick“
Willi Zellmann
Herzlich willkommen im Ilkerbruch.
Das Ilkerbruch, im Nordwesten Wolfsburgs beheimatet und mehr als hundert Hektar groß, ist ein bildschönes Fleckchen Erde. Besonders jetzt, da die Zugvögel zurückkehren und die großen Wasser- und Grünlandflächen bevölkern. Für Willi Zellmann ist das die schönste Zeit des Jahres, um in der Beobachtungshütte seinen Platz einzunehmen. Er legt sein kleines Fernglas auf den Sims, baut sein Stativ auf, legt die Hände um die Kamera – und wartet auf die Gunst der Stunde.
Willi Zellmann ist Hobbyfotograf und das Ilkerbruch der Ort, wo er seine schönsten Fotos macht. Die Hütte, besagte Bühne, ist dafür ein hervorragender Platz. Klein und unspektakulär ist sie. Doch wenn man eingetreten ist und seinen Blick durch das schmale Guckfenster zwängt, tut sich hier eine neue Welt auf – ohne die vielbefahrene K 114, die den Weg zum Ilkerbruch weist. Zwar dringt das Rauschen des Verkehrs an die Ohren und man spürt den Hüttenboden schwingen, wenn ein schwerer Lkw die Straße passiert. Das stört aber nicht.
Schon gar nicht die Naturfotografen, die hier ihr Revier haben. Mal ist es einer, der da ist; am nächsten Tag sind es ein paar mehr. „Der harte Kern besteht aus fünf, sechs Fotografen“, erzählt Willi Zellmann. Vor zehn Jahren hat er das Ilkerbruch entdeckt, seitdem ist er immer wieder hergekommen. Besonders jetzt im Frühjahr, da die Vögel über das Ilkerbruch herrschen. „Das ist die Hauptzeit“, sagt er, „die Vögel suchen sich ihre Brutplätze.“
Das Ilkerbruch ist Naturschutzgebiet. „Das Gebiet ist vor allem deswegen geschützt worden, um es vor Störungen zu bewahren und als Lebensraum zu sichern – für die Pflanzen- und Tierarten und ihren Lebensgemeinschaften, die an Feuchtgebiete gebunden und teilweise in ihrem Bestand gefährdet sind“, sagt Hansgeorg Pudack vom Umweltamt der Stadt. Die Natur, betont er, genießt hier „erste Priorität. Mit seinen großen Wasserflächen und den Feuchtgrünländern hat das Ilkerbruch große Bedeutung für Brut- und Rastvögel.“ Und für die rückgezüchteten Auerochsen, die eigentlich Heckrinder sind. Sie spielen die Hauptrolle im Beweidungsprojekt der Stadt Wolfsburg und der Volkswagen AG, um Lebensräume für Wiesenvögel und Weißstorch, für Amphibien und Libellen zu bewahren und zu schaffen.
Schon erstaunlich, dass bei der Entstehung des Naturschutzgebietes ausgerechnet die Abfalldeponie Wolfsburg eine wichtige Rolle spielt. Seine Gesichtszüge erhielt das Ilkerbruch dadurch, dass sein Boden für den Aufbau der Deponie verwendet wurde. Infolgedessen und durch die Gestaltung vormals landwirtschaftlich genutzter Bereiche entstanden rund „dreißig Hektar Wasserflächen mit ausgedehnten Flachwasserzonen und umgebende Feuchtwiesen, für die das Gelände sozusagen abgesenkt, also näher an den Grundwasserspiegel gebracht wurde“, erklärt Hansgeorg Pudack. Um das Ilkerbruch abzuschirmen, hob man einen breiten Wassergraben aus und ließ die richtigen Pflanzen an den richtigen Stellen wachsen.
Schutz – das bedeutet auch, dass der Mensch den großen Teil des Naturschutzgebietes nicht betreten darf. Um das Gebiet führt ein Naturerlebnispfad. Es gibt mehrere Beobachtungsplattformen, einen Aussichtsturm und ebenjene Hütte, die Willi Zellmann für seine Zwecke nutzt: nämlich die Welt durch eine Linse zu sehen und besondere Momente einzufrieren.
Etwa den kostbaren Augenblick, als sich ein kleiner Kerl mit schwarzer Maske und grauweißem Fell zeigte. Direkt vor der Hütte war der Waschbär aufgetaucht. Wie aus dem Nichts. Am helllichten Tag, wie es gar nicht seine Art ist. Willi Zellmann sah’s und drückte ab. „Mit gefällt sein Gesichtsausdruck in diesem Moment“, sagt er lachend.
Eisvogel, Silberreiher und Kormoran; Drosselrohrsänger, Rohrammer und Kiebitz; eine Rotte Wildschweine, die durch das Wasser schwimmt; Rehe, Füchse und auf der Wiese am Horizont die Auerochsen – in den vergangenen Jahren hat Willi Zellmann hier Tausende Tierfotos mithilfe seiner Objektive gemacht, die eine Brennweite von bis zu 500 Millimeter haben. Sein liebstes Motiv? „Das sind die Greifvögel.“ Etwa Fischadler, Bussard und Habicht, Baumfalke, Rohrweihe und Rotmilan. Und dann ist da noch ein ganz besonderes Pärchen, das das Ilkerbruch als sein Zuhause auserkoren hat.
Das ganze Jahr über wohnen hier zwei Seeadler. Warum auch woanders leben, wenn es im Ilkerbruch so schön abgeschieden und die Speisekarte reich an Fischen und Wasservögeln ist? Wenn die mächtigen Greifvögel mit ausgebreiteten Flügeln und einer Spannweite von zweieinhalb Metern über dem See auftauchen, um auf die Jagd zu gehen, dann ist das ein seltenes, beeindruckendes Erlebnis, erzählt Willi Zellmann. Alle Vögel geraten in helle Aufregung und ergreifen die Flucht. „Einmal hat der Seeadler sogar einen Schwan angegriffen – bis er dann doch feststellen musste, dass der als Beute viel zu groß für ihn ist.“ Vor sechs Jahren ist diesen beiden Seeadlern etwas gelungen, was es im Raum Wolfsburg seit mehr als zwei Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte: die erfolgreiche Brut. Seitdem haben sie jedes Jahr ein oder zwei Jungadler aufgezogen.
Das Ilkerbruch ist großes Kino? Bestimmt. Doch muss man wissen: Die spannenden, außergewöhnlichen Szenen sind spärlich gesät. Die drei wichtigsten Eigenschaften des Naturfotografen sind: Geduld, Geduld und Geduld. „95 Prozent meiner Zeit hier besteht aus Warten“, sagt Willi Zellmann, der bis zu seinem Ruhestand Volksbank-Vorstand war. „Es kommt häufig vor, dass ich fünfmal herkomme und kein einziges vernünftiges Foto zustande bringe.“ Ein Tag am Ilkerbruch ist „dann typisch, wenn nicht viel passiert. Manchmal fangen wir Fotografen dann untereinander an zu frotzeln, dass jemand von uns endlich seine Sachen einpacken muss, damit etwas Spannendes geschieht.“
Denn so schön das Stückchen Paradies auch ist – vor den Launen des Irdischen istman auch hier nicht gefeit. Taucht ein seltenes Tier im Ilkerbruch auf, dann verbreitet sich diese Nachricht schnell wie ein Lauffeuer. Weswegen eine Fotografin, die beseelt von dem Wunsch war, endlich eine Rohrdommel vor die Linse zu bekommen, einen mehr als hundert Kilometer weiten Anfahrtsweg auf sich nahm. Mehrere Stunden harrte sie aus, um einen kostbaren Blick auf den Vogel zu erhaschen und zu beobachten, wie er einen kleinen Fisch erbeutet. Und es tat sich: nichts. Also verstaute sie ihre Fotoausrüstung und zog von dannen. „Sie war gerade einmal fünf Minuten aus der Tür heraus. Und wer war plötzlich zu sehen? Die Rohrdommel.“ Drei Jahre ist es nun her, dass Willi Zellmann die Rohrdommel erstmalig durch den Sucher seiner Kamera erblickte. Im vergangenen Jahr, Mitte November, tauchte sie wieder auf und ließ sich geduldig ablichten. Seine Fotografenkollegen und er konnten viele Bilder von diesem genauso schönen wie auch scheuen Vogel machen. „Doch eigentlich sind mir Bilder gar nicht so wichtig“, sagt Willi Zellmann. „Die Natur beobachten und erleben ist meine Hauptmotivation. Ich würde nie ein Tier stören, um auf diesem Weg an ein Foto zu kommen. Dafür liebe ich die Natur viel zu sehr.“
Stefan Boysen
Fundstück: Ausgabe 5, Mai 2017