Ausflug in Geschichte und Geschichten
„Das ist doch voll langweilig. Außerdem regnet’s.“ Egal, aus der Nummer kommen die Kinder nicht heraus. Heute haben wir uns vorgenommen, auf Entdeckungsreise zu gehen. Ausgeguckt haben wir uns fünf Orte, die auf den ersten Blick nichtssagend sind, aber bei näherem Hinschauen viel über Wolfsburg erzählen. Los geht’s also zum Familienausflug der besonderen Art, bei dem wir einem cleveren Erfinder, einem bemitleidenswerten Gespenst und zwei Freunden fürs (Über-)Leben begegnen werden. Und auch einem schauerlichen Typen, der seinen schrecklichen Job erfreulicherweise an den Nagel gehängt hat.
Der stumme Zeuge
Was wissen Kinder vom Krieg? Zum Glück nicht viel. „Zuhause habe ich ein Panzer-Quartett“, sagt Nick, während er das von Wind und Wetter verwitterte, mit Moos bedeckte Überbleibsel einer anderen Zeit aus der Nähe betrachtet. Die Frage steht ihm ins Gesicht geschrieben: Was mag dieses komische Ding da aus grauem Stein nur sein?
An einem normalen Tag wären wir vielleicht achtlos daran vorbeigegangen. Heute nicht, wir bleiben stehen und schauen uns den Einmannbunker auf dem Klieversberg genau an. Im Zweiten Weltkrieg diente er als Zufluchtsort für die Menschen. „Bestimmt waren da auch Kinder drin, denn die können sich im Krieg ja nicht verteidigen“, meint Lina, als sie durch den Sehschlitz ins feuchte, dunkle Innere schaut.
In den Bunker hineinkriechen und hier ausharren zu müssen, ist eine bedrückende Vorstellung. Unter dem kugelförmigen Dach ist es quälend eng. Ein, vielleicht zwei Menschen fanden etwas Schutz, bis der Bombenhagel vorüber war. Einen direkten Treffer hätten sie nicht überlebt. Immerhin bot der schwere Stahlbeton Sicherheit bei Gewehrfeuer und gab Deckung, wenn Splitter flogen.
Auf dem Klieversberg hat man einen tollen Blick auf die Stadt, die 1944 das Ziel von fünf schweren Luftangriffen auf die Werksanlagen war. Ob hier oben jemand zusah, als die Bomben fielen? Einmannbunker waren auch Beobachtungsposten für Brandwachen. Hier auf der Anhöhe hätten sie freie Sicht gehabt auf die Bomber am Himmel und Brände in der Stadt, um im Fall der Fälle die Löschmannschaften alarmieren zu können. Früher gab es viele Einmannbunker in Deutschland. Im Laufe der Jahre sind fast alle zerlegt worden und nach und nach von der Bildfläche verschwunden. In Wolfsburg ist er stummer Zeuge des Krieges geblieben.
„Hier oben ist ein Loch, vielleicht war das eine Kanonenkugel“, sagt Nick. In das Erdreich eingesunken und wund von der Zeit hat der Einmannbunker seine besten Tage hinter sich. Irgendwie ist das auch gut so.
Ort für geniale Ideen
Einen guten Erfinder zeichnet die wunderbare Fähigkeit aus, Grenzen zu überschreiten und Neuland zu betreten. Wir dagegen wissen, wo unsere Grenzen sind und wann wir unseren Entdeckergeist besser einbremsen. Dieses Objekt ist videoüberwacht und alarmgesichert, ermahnt uns das Schild. Okay, verstanden. An der Porschehütte sind mehr als ein paar Blicke über den Zaun nicht drin.
Vom Einmannbunker zur Porschehütte geht man nur wenige Minuten zu Fuß auf einem schmalen Weg, den links und rechts ein paar Bäume säumen. Hier im Wald ist heute keine Menschenseele zu sehen. Im Prinzip also beste Voraussetzungen, um in aller Ruhe und Abgeschiedenheit eine bahnbrechende Idee zu entwickeln – so wie Ferdinand Porsche, der mit seinen genialen Erfindungen die Automobilbranche geprägt hat.
Unter dem Dach der Porschehütte, einen Steinwurf vom Klieversberg entfernt, hat er viele Jahre lang gearbeitet, getüftelt, gewerkelt. Für Lina ein guter Grund, warum das Grundstück eingezäunt und gesichert ist: „Weil der Mann ganz berühmt ist, ist auch das Haus ganz wertvoll. Auch sein Auto können sich ja nicht so viele leisten.“
Gründer der Automarke Porsche war Ferdinand Porsche und einer der ganz großen Automobilkonstrukteure des 20. Jahrhunderts. Mehrere Jahre leitete er die Werksanlagen in Wolfsburg und hatte großen Anteil an der Entwicklung des KdF-Wagens und damit auch des legendären VW-Käfer, der weltweit mehr als 20 Millionen Mal verkauft wurde. Vielleicht hatte er ja am Schreibtisch der Porschehütte den einen oder anderen zündenden Einfall, der seinen Fahrzeugen Antrieb gegeben hat?
Das Holzhäuschen stammt aus der Zeit der Stadtgründung, ist im Besitz von Volkswagen und sieht nach der Sanierung so gut in Schuss aus, dass wir es sehr gerne aus der Nähe betrachtet hätten. Vielleicht ja beim nächsten Mal.
Zum Henker mit ihm
Auch das Grauen hat einen Stuhl, auf den es sich setzt, einen Tisch, an dem es frühstückt, ein Bett, in dem es schläft. In Vorsfelde fand das Grauen sein trautes Zuhause in der Meinstraße 14. Hier
in dem hübschen Fachwerkhäuschen lebte der Henker. An der Mauer erzählt uns ein kleines Schild, dass das Gebäude 1607 gebaut wurde und einen besonderen Namen trägt: Scharfrichterhaus.
„In den Büchern von Harry Potter kommt auch ein Henker vor“, sagt Lina, „er hat schwarze Kleidung und eine Maske über dem Kopf. Vielleicht will er nicht bekannt sein, weil alle Menschen böse auf ihn sind.“
Tatsächlich war es um das Image dieses Berufsstandes nicht besonders gut bestellt. Man benötigte zwar die Dienste des Henkers, aber mit ihm zu tun haben wollten die Menschen lieber nicht. Was auch kein Wunder ist, wenn man sich vor Augen führt, was unter seinem Dach am helllichten Tag geschehen sein musste. Über das Scharfrichterhaus ist bekannt, dass sein Keller als Gefängnis diente. Sogar eine Folterkammer gab es, um den Widerstand von Gefangenen zu brechen und ihre Geständnisse zu erzwingen. Todesurteile wurden an Ort und Stelle vollstreckt.
Zwei lange Jahrhunderte blieb das Scharfrichterhaus, nach dem Imkerhaus das zweitälteste Gebäude in Vorsfelde, die Dienstwohnung des Henkers. Johann Conrad Löwe, im Hauptberuf Abdecker, soll hier der letzte Herr über Leben und Tod gewesen sein. Als er starb, zog auch das Grauen aus. Heute ist das Scharfrichterhaus von Vorsfelde in Privatbesitz. „Gibt es noch Henker?“, fragt Nick. „In Deutschland nicht“, sagt Lina.
Geistreicher Grusel
„Ich glaube nicht an Geister, aber gruselig ist das schon“, sagt Lina, als die Wolfsburger Geheimnisse zurück in den Rucksack wandern. Aus diesem Buch hat sie eben im Hof des Schloss
Wolfsburg eine echt gute Gespenstergeschichte zu hören bekommen. Sie handelt von zwei Männern: von Hans von Bartensleben alias Hans der Reiche, der einst auf der Wolfsburg wohnte; und von einem kummervollen Mönch, der – in der Annahme Hans enttäuscht zu haben – lieber den Freitod wählte, anstatt seinem Herren noch einmal vor die Augen zu treten.
Unter dem Torbogen des Schlosses soll der Mönch seinen letzten Atemzug gemacht haben und von uns gegangen sein. Oder ist er es gar nicht und weilt noch unter uns? Der Mönch, besagt die Legende, soll mit sich und der Welt immer noch nicht so ganz im Reinen sein und durch das Schloss spuken. Lina findet, dass er es viel einfacher hätte haben können: „Der Hans war ja nett und hat den Armen geholfen. Ich wäre als Mönch einfach zu ihm hingegangen und hätte mich entschuldigt.“
Tatsächlich war Hans von Bartensleben ein solch frommer und herzensguter Kerl, dass er sein Vermögen den Bedürftigen überließ. Kurz vor seinem Tod gründete er mit seinem Geld eine Stiftung, die in der näheren Umgebung und auch in Städten wie Braunschweig und Magdeburg den Kranken, Witwen und Waisenkindern zugutekam. Auch ein Hospital und mehrere Armenhäuser erhielten Unterstützung aus der Hinterlassenschaft Hans des Reichen.
Über den Schlossherrn wurde viel erzählt, sein Leben und Wirken gilt als verbrieft. Aber was ist mit dem Schicksal des Mönches? Angeblich gibt es sogar Zeugen, die ihn dabei gesehen haben wollen, wie er des Nachts durch das Schloss Wolfsburg geistert… Nein, Lina glaubt nicht an Gespenster: „Zumindest am Tag nicht. Nur nachts habe ich manchmal so ein komisches Gefühl.“
Gut zu wissen: Der Mönch auf Schloss Wolfsburg soll ein guter Geist sein.
Ziemlich beste Freunde
Ein ganz normales Fachwerkhaus? Von wegen. Hinter diesen Mauern steckt der Stoff für einen guten Kinofilm. Das Haus neben der evangelisch-lutherischen Kirche St. Marien erzählt die
ungewöhnliche Geschichte von zwei Freunden, die durch dick und dünn gegangen sind. Der eine ist Revoluzzer, Weltverbesserer, Freiheitskämpfer, der für seine aufsässigen Ideen und Ideale seine Existenz aufs Spiel setzt und tatsächlich alles verliert. Und der andere ist sein guter Kumpel, der ihn in der Not und gegen alle Widerstände rettet – obwohl er selbst in Angst lebt, für seine unerschütterliche Treue an den Pranger gestellt zu werden.
Die Hauptdarsteller dieser Geschichte sind der große Dichter Hoffmann von Fallersleben und Pastor David Lochte. Ihre Konterfeis zieren die kleine Tafel, die an der Mauer ebendieses Hauses zu sehen ist. „Der mit dem Hut ist der Dichter, denn Dichter haben häufig einen auf“, sagt Lina, während sie die Inschrift liest. Die Zeilen verraten, dass David Lochte von 1826 bis 1862 Pfarrer von St. Marien war. Und dass hier das Pfarrhaus steht, in dem er Hoffmann von Fallersleben vor den Schergen des preußischen Königs versteckte.
„Er muss ein guter Freund gewesen sein, denn ein schlechter Freund hätte ihn verraten“, meint Nick. Hoffmann von Fallersleben, Schöpfer der deutschen Nationalhymne, fand hier Unterschlupf, als er lautstark die deutsche Kleinstaaterei kritisierte, entschieden für die politische Einheit kämpfte und so den Zorn der repressiven Obrigkeit auf sich zog – mit bösen Folgen für ihn.
Auf der Flucht musste er alles zurücklassen: seinen guten Ruf, den gut dotierten Professorenjob an der Uni, sogar seine Staatsbürgerschaft. Was Hoffmann von Fallersleben blieb, war die Freundschaft zu David Lochte, der nicht vor der Staatsgewalt einknickte und zu seinem Kameraden hielt. Mehrere Male soll sich Hoffmann von Fallersleben hier in der Schloßstraße verschanzt haben. Ob eines schlimmen Tages die Verfolgerschar an genau diesem Eingang stand und vehement an die weiße Tür klopfte, vor der wir jetzt stehen? „Vielleicht gibt es einen Geheimgang aus dem Haus raus“, mutmaßt Nick.
Nur ein paar Meter weiter in der Kirche St. Marien, wo David Lochte seine Predigten hielt, ragt aus der Mauerfuge ein kleines Stückchen Holz hervor, um das sich eine unglaubliche Erzählung rankt – eine gute Geschichte für den nächsten Familienausflug.
Stefan Boysen
Fundstück aus der Printausgabe 11 Dein Wolfsburg 2020
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