Gänse am Schillerteich

Graugänse

Wildlife in the City

Im Gänse­marsch zum Schil­ler­teich, Neuen Teich und Allersee: Alle Jahre wieder im April fügt sich die Graugans in das Wolfs­burger Stadtbild ein. Im Interview spricht der inter­na­tional renom­mierte Gänse­for­scher Dr. Helmut Krucken­berg aus Verden an der Aller darüber, was die Vögel in die Stadt treibt und wie wir ihnen begegnen sollten. Und er erzählt von einem außer­ge­wöhn­li­chen Sinn, den die Graugänse uns Menschen voraushaben.

Herr Dr. Krucken­berg, gemeinsam mit weiteren Forschern haben Sie gerade „Das große Buch der Gänse“ veröf­fent­licht. Was macht diese Vögel so faszinierend?

Aus Forscher­sicht vereinen Gänse viele inter­es­sante Aspekte. Sie sind inter­na­tional unterwegs und sehr lern- und anpas­sungs­fähig. Dazu verhalten sie sich ausge­spro­chen sozial: Graugänse bilden lange Partner­schaften, kümmern sich viele Monate um den Nachwuchs und fliegen in großen Gruppen in ihre Überwin­te­rungs­ge­biete. Im Herbst ist es für jeden von uns ein tolles Erlebnis, die Vögel dabei zu beobachten, wie sie in großer Anzahl über uns hinwegziehen.

Was inter­es­siert Sie als Forscher an den Graugänsen besonders?

Seit dem späten Mittel­alter war die Graugans bei uns ausge­storben. In den 1980er Jahren gab es Bestre­bungen, sie wieder heimisch zu machen. In Nieder­sachsen starteten große Ansied­lungs­pro­jekte, etwa in Riddags­hausen, am Dümmer und am Stein­huder Meer. Eine der Fragen, die wir uns seitdem stellen, ist die nach dem Zugver­halten der Vögel. Haben die Vögel ein neues natür­li­ches Verhalten erlernt? Wir haben gezeigt, dass die Graugans es in unseren Breiten nicht mehr nötig hat, zum Überwin­tern nach Spanien zu fliegen.

Was hat die Graugans statt­dessen im Sinn?

Das ist der natür­liche Prozess von Überleben und Selektion: Die Vögel mit der besseren Strategie setzen sich durch. Anstatt den gefähr­li­chen Weg Richtung Süden auf sich zu nehmen, tun sie gut daran, vor Ort zu bleiben. In Nieder­sachsen ist es durch den Klima­wandel im Winter mild und schneearm, zudem gibt es große Maisstop­pel­felder. Für die Graugans ist das ein Schla­raf­fen­land. Wer hier bleibt, lebt etwas sicherer, spart Energie und ist früher wieder am Brutplatz.

Also haben die Graugänse das Wandern aufgegeben?

Nein, das nicht. Uns ist es auch gelungen heraus­zu­finden, dass die Vögel im Frühling und Sommer wandern. Im April sammeln sich viele Altvögel am Schil­ler­teich und Neuen Teich, um in Wolfsburg zu mausern. Einmal im Jahr verliert die Graugans alle großen Federn an den Flügeln, sodass sie nicht mehr fliegen kann – bis die Federn wieder nachge­wachsen sind. Die Vögel kommen teilweise von weit her nach Wolfsburg. So wurden die Vögel vom Schil­ler­teich in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen beobachtet.

Wieso haben sich die Gänse die Wolfs­burger Gewässer ausgeguckt?

Die Gänse kommen in die Stadt, weil sie während der Mauser sicher vor dem Fuchs sind und – anders als am Ilker­bruch – auch vor dem Seeadler. Außerdem finden sie genügend Gras zum Fressen. Vor zwei Jahren sind wir Forscher auf Wolfsburg aufmerksam geworden, als wir von den Diskus­sionen über die Gänse in der Stadt hörten. Wir waren positiv überrascht, wie vorbild­lich die Stadt­ver­wal­tung den Umgang mit den Gänsen managt – etwa durch die Netze, um so zu verhin­dern, dass sie auf den Berliner Ring laufen. Die europäi­sche Recht­spre­chung stellt ja die Mauser­plätze von Vögeln unter beson­deren Schutz.

Es kommt vor, dass die Gänse es trotzdem auf die Straße oder den Radfahrweg schaffen…

…es sollte immer überlegt werden, ob man das System mit den Zäunen weiter optimieren kann. Wir haben beobachtet, dass die Gänse lernen, durch den Fußgän­ger­tunnel auf die andere Seite der Berliner Straße zu kommen, wenn am Schil­ler­teich das Futter nicht mehr ausreicht. In solch einem Fall sollte man kurz anhalten, die kurzfris­tigen persön­li­chen Einschrän­kungen nicht zu stark bewerten und sich an dem lustigen Anblick erfreuen. Natürlich sollte alles unter­nommen werden, damit die Gänse im Park ausrei­chend Nahrung finden, denn sie können während des Mauserns ja nicht weg. So vermeidet man gefähr­liche Situa­tionen. Die gute Nachricht ist: In dem Moment, da die Gänse wieder fliegen können, verlassen sie die Stadt.

Wie nehmen Sie die Stimmung rund um die Gänse in Wolfsburg wahr?

Wir sind in den vergan­genen zwei Jahren oft im Park gewesen und haben viele Leute getroffen, die sich für unsere Arbeit inter­es­siert haben. Sie wollten wissen, warum wir die Vögel mit einer gelben Manschette um den Hals und mit einer Nummer versehen. Im Großen und Ganzen gab es viel positive Resonanz auf die Gänse und Wildlife in the City.

Wenn die Gänse kleine Kinder anfauchen, regt sich manch Spazier­gänger auf. Zu Recht?

Es ist eine Frage der inneren Einstel­lung gegenüber der Mitwelt. Graugänse sind wilde Tiere, die ihre eigenen Bedürf­nisse haben und gute Gründe, zu uns in die Stadt zu kommen. Es ist ja so, dass sie nicht nur in unseren Lebens­raum eindringen, sondern wir Menschen auch in ihren. Wir sollten also einen Weg der Koexis­tenz finden. Ich halte es für wichtig, Kindern beizu­bringen, dass die Parks kein Strei­chelzoo sind. Die Vögel sind wild, wollen Abstand zu uns und machen das auch deutlich. Katzen kratzen, Hunde beißen und Gänse fauchen.

Graugänse mit Markierung
Gans mit Markie­rung
© Silas Kruckenberg

Mit www.geese.org gibt es im Internet eine große Datenbank. Welche Idee verbirgt sich dahinter? 

Im vergan­genen Jahr haben wir an den Wolfs­burger Teichen rund 80 Graugänse mit gelben Halsman­schetten markiert. So sind sie Teil eines großen inter­na­tio­nalen Projekts und unter­scheid­bare Indivi­duen geworden: Die Gänse und ihre Lebens­ge­schichten lassen sich verfolgen. Nachdem man sich bei geese.org regis­triert hat, kann man seine Beobach­tungen in die Datenbank eintragen und nachschauen, wo die Wolfs­burger Graugänse im Laufe der Jahre gesehen wurden. Für viele Natur­freunde ist das ein großer Spaß – es gibt in ganz Europa mehr als 13.000 Freiwil­lige, die markierte Vögel im Gelände suchen, ablesen und so unsere Forschung mit ihren Infor­ma­tionen unter­stützen. Früher musste man einen Brief an die Vogel­warte schreiben, heute bekommt man die Daten noch vor Ort über eine App zu sehen.

Welche Beson­der­heiten haben die vielen Beobachter aufgedeckt?

Es gibt Vögel, die wirklich weit herum­kommen, und umgekehrt solche, die sehr ortsstabil sind und sich kaum wegbe­wegen. Ich freue mich, wenn ich jedes Jahr denselben Vogel wieder­treffe. Viele haben besondere Tradi­tionen und Gewohn­heiten ausge­prägt und sind zum gleichen Zeitpunkt am selben Ort – und das jedes Jahr. Wenn wir Menschen an einem fremden Bahnhof aussteigen, dann sind wir häufig recht hilflos, weil wir nicht wissen, wo wir hinsollen. Die Graugänse dagegen folgen einfach ihrer inneren Karte. Wenn sie zwei, drei Tage zu spät dran sind, dann nehmen sie eine Abkürzung und kommen so auf den Tag genau an ihrem Brutplatz an. Das sollte jedem wirklich Respekt abnötigen.

Stefan Boysen

Titelfoto: Silas Kruckenberg

DEIN WOLFSBURG, Ausgabe 15, Sommer 2022

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