Das Gefühl von Heimat
Gemeinsam etwas Neues wagen und so die Orts- und Stadtgeschichte bewahren: Mit Heimatflimmern ist der Arbeitsgemeinschaft Heimatpflege und dem städtischen Institut M2K ein echtes Meisterstück gelungen. In guter Zusammenarbeit tauchen sie ein in die Vergangenheit unserer Stadt und befördern aus ihrer Fotosammlung kostbare Schätze ans Tageslicht. Was diese historischen Bilder so einmalig macht: Auf Facebook erzählen sie uns, wie unsere Heimat früher aussah – und wie sie sich im Laufe der Jahre bis zum heutigen Tag entwickelt hat.
Eine Frau, die Fahrrad fährt? Das ziemt sich doch nicht! Das mag vielen durch den Kopf gegangen sein, als sie Helene Baumgarten auf dem Drahtesel durch Nordsteimke radeln sahen. Der eine oder andere wird sich insgeheim gedacht haben: Ach, gäbe es doch mehr, die so couragiert sind wie sie! Damen im Sattel waren seinerzeit – das Foto ist vom 20. Mai 1908 datiert – eine absolute Seltenheit. Was die Frau nicht davon abhält, mit ihrem Mann Walter vor der alten Schule auf dem Kirchberg für den Fotografen zu posieren – und für die Gleichberechtigung von Mann und Frau einzustehen.
Helene Baumgartens kühner Fahrradausflug in Nordsteimke und die legendären Motocross-Fahrer auf dem Velstove-Ring; die Wölbungen alter Pflugscharen im Waldboden des Hohnstedter Holzes, der Feuerlöschteich in Sandkamp und die Wassermühle in Hattorf: „Mit unseren Fotos bereiten wir Geschichtliches auf eine neue Art und Weise auf: in knapper, gut verständlicher Form“, sagt Stadtheimatpflegerin Dr. Marlis Oehme. Auf der Facebook-Seite von M2K wird jeden Samstag ein Foto veröffentlicht und kommentiert. Mittlerweile sind so viele Bilder zusammengekommen, dass sie sogar in einem Buch verewigt worden sind.
Wesentlichen Anteil daran haben die Heimatpfleger und Heimatpflegerinnen in den 19 Wolfsburger Ortsteilen. Die Arbeitsmethoden der Heimatpflege und das Wirkungsfeld der neuen Medien – passt das zusammen? Und wie, meint Marlis Oehme. Die ehrenamtlich arbeitenden Frauen und Männer hätten ein neues Denken verinnerlicht, das in dem Projekt Heimatflimmern zum Ausdruck komme. Der Lohn: viel mehr Aufmerksamkeit für die Heimatpflege. Marlis Oehme setzt sich sehr für den neuen Kurs ein: „Es entwickelt sich ein neues Gemeinschaftsgefühl“, sagt sie, „das macht einfach Spaß.“
Was ist überhaupt Heimat? Darüber sind unzählige Bücher geschrieben worden. In diesen Zeiten, da viele Menschen ihr Zuhause verlassen müssen, entwickelt sich laut Marlis Oehme ein neues Verständnis von Heimatpflege. „Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Heimatgefühle zu entwickeln“, sagt sie. Heimat sei nicht unweigerlich an einen geografischen Ort gebunden. Sie könne einfach auch dort sein, wo man Freunde gefunden hat, die Natur oder die Kultur liebt, kurz: wo man gut leben und arbeiten kann.
Ganz gleich, wie Heimat definiert wird: Für das Zusammenleben der Menschen ist es wichtig, dass sich jeder irgendwo willkommen und akzeptiert fühlt. „Heimatpflege grenzt niemanden aus“, betont Marlis Oehme, „sie ist deshalb eine wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft.“
„Heimatflimmern“ ist zum Preis von € 9,90 im Shop des Stadtmuseums im M2K, im Buchhandel und im Wolfsburg-Store erhältlich.
Stefan Boysen
Ausgabe 16, DEIN WOLFSBURG, Herbst/Winter 2022