Bronze-Wolf auf Abwegen
Ich hatte schon immer mit den Kilos zu kämpfen. Nicht weil ich zu viele davon habe, sondern eher zu wenige. Ich sehe aus wie Asterix, esse aber wie Obelix. Viele Ente-Gans-Spargel-Schnitzel-Was-auch-immer-satt-Restaurants in der Region haben meine Teilnahme am All-you-can-eat im Kleingedruckten daher von vornherein ausgeschlossen; und mein Sahnetorten-Verschleiß bei frühkindlichen Kanaren-Urlauben ist dort in die lokale Mythologie eingegangen.
Als ich vor mehr als 25 Jahren am Süßspeisenbüfett großen Schrecken verbreitete, war der kanarische Unterhaltungselektronik-Handel noch fest in indischer Hand. Ich wollte unbedingt eine Video-Kamera haben; und um die zähe Kaufentscheidung zu beschleunigen, setzte der Verkäufer alles auf eine Karte (nicht auf die väterliche Visa, sondern sprichwörtlich): „Ein kleiner Helmut Kohl“, sagte er und tätschelte mir die Hand. Wobei ich mich bis heute frage, wie er dieses Kompliment meinte – und ob es überhaupt eins war.
Mit dem doppelt so großen und viermal so schweren Bundeskanzler hatte ich damals in etwa so viel Ähnlichkeit wie die Großmutter mit dem Wolf. Man muss als Rotkäppchen schon eine erhebliche Menge des gleichnamigen Sekts intus haben, damit einem das Offensichtliche nicht auffällt: dass Omas Gesicht über und über mit grauem Pelz bedeckt ist (und nein, Conchita Wurst war einige Jahrhunderte später). Aber, nun, der Wolf scheint eben ein rechter Verwandlungskünstler zu sein.
Denn selbst die Verwaltungsfachwirte der Stadt Bremen haben nicht bemerkt, wen sie sich als vermeintlichen Hütehund in die Figurengruppe „Der Schweinehirt und seine Herde“ geholt haben: einen Wolfsburger Wolf nämlich. Der heult – wie sein Artgenosse in der Wolfsburger Fußgängerzone – in gleicher, gestreckter Pose, direkt neben dem Hirten, quasi im Auge des Sturms. Schwein gehabt hat er bis heute jedoch nicht; die Ringelschwanz-Rotte ist vollzählig.
Nüchtern – also Rotkäppchen-frei – betrachtet lässt sich die scheinbare Scharade ohnehin leicht erklären: Bremer und Wolfsburger Skulpturen haben denselben Schöpfer, den 1995 verstorbenen norddeutschen Bildhauer Peter Lehmann. Was beide Gruppen verbindet ist, über den Wolf hinaus, der Stil: In Lehmanns Werk vereinen sich die formale Klarheit eines Henry Moore mit der fokussierten Gegenständlichkeit eines Ernst Barlach.
Im Gegensatz zu dessen oft sakralem Werk wohnt Lehmanns Arbeiten stets etwas Heiteres inne, das geprägt ist von einer ebenso liebevollen wie scharfsinnigen Betrachtung von Mensch wie Tier. Die sechs Wolfsburger Bronze-Wölfe sind daher auch nicht streng aufgereiht, sondern fügen sich seit 1981 geradezu natürlich in die Kulturlandschaft Fußgängerzone ein und scheinen auch als Rudeltiere jeweils ganz eigene Persönlichkeiten zu besitzen.
Die einen Heulen voller Inbrunst, die anderen fläzen sich schlaftrunken auf dem Boden; da kann jedes Wolfsburger Kind leicht seinen Liebling finden. Blankpolierte Rücken und glattgerubbelte Schnauzen erzählen von jahrzehntelangem Gerittenwerden und Geknuddeltsein. Bei so viel Liebe dürfte der Bremer Wolf seine Scharade längst bereut haben. In diesem Sinne: Junge, komm bald wieder! Denn Platz ist selbst im kleinsten Rudel.
Alexander Kales
Bild: Links ist der Bremer Hütehund und rechts der Wolfsburger Wolf zu sehen. Wolfsburger Wolf © WMG, JSG
Ausgabe 11, DEIN WOLFSBURG, 2020