Mein erster Ausflug in die Welt der Bildhauerei
Vielleicht entsteht ja sogar eine Freundschaft zwischen Hammer, Meißel und mir. Gerade noch fühlten sich die Werkzeuge fremd und unhandlich an, doch jetzt sitzt jeder Griff wie angegossen. Ringsherum höre ich das beruhigende Klopfen der anderen, vertieft in ihre Werke; und da vor mir ist mein Kalksteinblock, der mehr und mehr Gestalt annimmt. Es fühlt sich an, als würde ich nicht nur den harten Stein, sondern auch meine anfänglichen Zweifel wegmeißeln.
Ob ich Bedenken hatte? Oh ja, reichlich! Zum Geburtstag hatte ich mir eigentlich ein Panini-Album der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 komplett mit allen Sammelstickern von meinen drei Schwestern gewünscht. Stattdessen bekam ich einen Gutschein für einen Bildhauer-Workshop – garniert mit guten Wünschen, der Bruder möge doch bitte neue Erfahrungen sammeln und endlich einmal seine Grenzen erweitern.
Also ist mir doch ein wenig mulmig zumute, als ich mich am Samstagmorgen auf in das Atelier von Rainer Scheer im Gewerbegebiet Heinenkamp II mache. Andere Leute haben ihre Schwierigkeiten mit Mathe; ich war derjenige, der im Kunstunterricht nicht gerade brilliert hat. Und heute? Heute gewinne ich schnell den Eindruck, dass der gebürtige Wolfsburger der entspannteste Künstler überhaupt ist. Schon bei der Begrüßung seines Bildhauer-Workshops vermittelt er einem ein gutes Gefühl. Nach dem Motto: „Hier sind Hammer und Meißel, so funktioniert es – und nun geht’s los.“
Jetzt zum Kern des Ganzen: der Stein. Um das imposante Ateliergebäude von Rainer Scheer sind zahlreiche Blöcke gelagert, jeder mit seinem eigenen Charakter. Ich entscheide mich für einen kleinen, annähernd runden Block, der mein Herz berührt, platziere ihn auf den Bildhauertisch und erinnere mich an mein Vorhaben. Mein Erstlingswerk soll ein Gesicht darstellen, das die Dualität des Menschen einfängt – mit einem klaren und einem verschwommenen Ausdruck. Ein ambitioniertes Projekt für den Anfang meiner Bildhauer-Karriere, doch warum nicht gleich groß denken?
Beim ersten Schlag auf den Stein weiß man noch nicht, ob es Spaß macht oder nicht – ähnlich wie beim ersten Sprung vom Beckenrand. Doch schnell wird klar, dass Bildhauen seine eigene Freude birgt. Das sorgfältige Setzen des Meißels und das kräftige Schlagen des Hammers schneiden saubere Kerben in den Kalkstein. Jeder Schlag wirbelt kleine Splitter auf, und das grobe Anfangsgebilde beginnt sich in eine deutlich definierte Form zu verwandeln.
Ganz ehrlich, selbst ein Gesicht auf Papier zu zeichnen ist eine Kunst; es dreidimensional zu formen, erst recht. Mit allen Proportionen und feinen Unterschieden zwischen Symmetrie und Asymmetrie ist das wirklich eine Sache für geübte Bildhauer.
Ich bin daher unglaublich dankbar, dass Rainer Scheer stets zur Stelle ist. Er bringt nicht nur seine Tipps und Tricks rund ums Werkzeug mit, sondern auch sein feines Gespür für die menschliche Anatomie. Wenn es um knifflige Details wie Augenlider, Nasenlöcher oder Lippen geht, steht er helfend zur Seite – genau dann, wenn ich ihn brauche. Seine Philosophie? „Ich unterstütze dort, wo Bedarf ist und gebe euch sonst Freiraum“, sagt er.
Was treiben eigentlich die anderen Künstler? Zwischendurch nehme ich mir die Zeit für einen kleinen Rundgang, um zu sehen, was sie so erschaffen und um vielleicht ein wenig Inspiration zu sammeln. Die Vielfalt ist beeindruckend: Einer meißelt Treppen in seinen Steinblock, ein anderer formt einen Bären, und jemand gestaltet eine Vogeltränke für den Garten.
Es ist wirklich ein schönes Gefühl, zu merken, wie meine Geschicklichkeit und Sicherheit im Umgang mit Werkzeugen und Materialien bei der Bildhauerei zunehmen; und beobachten zu dürfen, wie aus einem einfachen Block ein fein ausgearbeitetes Objekt entstanden ist. Es entspricht zwar nicht ganz meiner ursprünglichen Vision, hat sich aber definitiv in die richtige Richtung bewegt.
Am Ende des Workshops bin ich ziemlich platt – Bildhauen ist eben nicht nur filigrane Kunst, sondern auch harte Arbeit, die sowohl Muskeln als auch Konzentration fordert. Aber ich bin glücklich, etwas Dauerhaftes geschaffen zu haben – und dabei, liebe Schwestern, habe ich meine Grenzen ein Stück weit nach vorne verschoben. Für meinen nächsten Geburtstag wünsche ich mir dann bitte einen Fallschirmsprung.
Stefan Boysen
10/2024