Cover der Publikation Mitgebracht

Mitge­bracht – Eine Zuwan­de­rungs­ge­schichte Wolfsburgs

Das Institut für Zeitge­schichte und Stadt­prä­sen­ta­tion (IZS) ist in seiner Haupt­funk­tion als Archiv das Gedächtnis der Stadt. Seit seiner insti­tu­tio­nellen Einrich­tung im Jahr 1976 widmet sich das IZS der Erfor­schung der Wolfs­burger Stadt­ge­schichte – angefangen mit der NS-Geschichte von 1938 bis 1945, der Demokra­tie­ent­wick­lung nach 1945 und der Zuwan­de­rungs­ge­schichte. Vor allem der Aspekt der Zuwan­de­rung wird verstärkt in den wissen­schaft­li­chen Fokus gerückt, ist die Stadt doch zweifels­ohne durch diese geprägt. Nur wenige Wolfs­bur­ge­rinnen und Wolfs­burger haben keine Migra­ti­ons­er­fah­rung innerhalb der eigenen Familie.

Die Publi­ka­tion Mitge­bracht – Eine Zuwan­de­rungs­ge­schichte Wolfs­burgs ist das jüngste Ergebnis des IZS, die Zuwan­de­rungs­ge­schichte der Stadt aufzu­ar­beiten und bestehende Lücken in der Forschung wie auch der Überlie­fe­rung zu schließen, zielt das Institut doch auch darauf ab, die Archiv­be­stände des Hauses zu erweitern. Angestoßen wurde das Projekt im Rahmen der Feier­lich­keiten des 45-jährigen Bestehens des Integra­ti­ons­re­fe­rates im Jahr 2019.

Zunächst als kleines Ausstel­lungs­pro­jekt mit beglei­tender Broschüre geplant, entwi­ckelte sich das Vorhaben im Laufe des Arbeits­pro­zesses zu einem eigen­stän­digen Publi­ka­ti­ons­pro­jekt. Es wurde maßgeb­lich durch das in den 1970er Jahren entstan­dene Ausstel­lungs­kon­zept Musée Senti­mental des Schweizer Künstlers Daniel Spoerri inspi­riert, in dem persön­liche Gegen­stände und die mit ihnen verknüpften Erinne­rungen in den Mittel­punkt gestellt werden. Ausschlag­ge­bend auch für die Auswahl der Wolfs­burger Objekte war, dass sie eine Geschichte trans­por­tieren und damit emotional berühren. Auf diese Weise waren – und sind – zahlreiche Menschen angespro­chen, die zuvor noch nie in Kontakt mit dem IZS und der Stadt­ge­schichte gestanden haben. Durch diese persön­liche Heran­ge­hens­weise findet Geschichts­ver­mitt­lung auf einer anderen Ebene statt: Alle Betei­ligten werden zu Akteuren und Vermitt­lern der Wolfs­burger Stadt- und Zuwanderungsgeschichte.

Tajine aus Marokko
Tajine aus Marokko

Bürge­rinnen und Bürger mit einer Zuwan­de­rungs­ge­schichte für das Projekt zu gewinnen

Ein solches Buch lebt von seinen Teilneh­me­rinnen und Teilneh­mern. Die größte Heraus­for­de­rung bestand darin, Bürge­rinnen und Bürger mit einer Zuwan­de­rungs­ge­schichte für das Projekt zu gewinnen – und dies aus möglichst vielen Herkunfts­län­dern und ‑regionen. Zum Zeitpunkt der ersten Idee lebten in Wolfsburg Menschen aus exakt 151 verschie­denen Nationen. Eine Auswer­tung des Einwoh­ner­mel­de­re­gis­ters verrät, um welche Nationen es sich konkret handelt: von A wie Afgha­ni­stan bis Z wie Zentral­afri­ka­ni­sche Republik. Aber wie spürt man diese Menschen auf und wie gewinnt man sie dafür, ihre mitunter schmerz­vollen und traurigen Lebens­ge­schichten mitzuteilen?

Der erste Anlauf­punkt waren Verwandte, Freunde und Bekannte. Wen kenne ich persön­lich, wer hat Migra­ti­ons­er­fah­rung? Und: Wen von ihnen kann ich anspre­chen? Das Integra­ti­ons­re­ferat übernahm dankens­wer­ter­weise die Ansprache der migran­ti­schen Vereine der Stadt. Leider war der Rücklauf sehr gering, auch ein Aufruf in der lokalen Presse brachte nicht den erwünschten Erfolg. Daher war klar, nachdem

alle poten­zi­ellen Kandi­da­tinnen und Kandi­daten aus dem Verwandten- und Bekann­ten­kreis angefragt waren, dass es nur über Laufar­beit geht: Wenn die Gesuchten den Weg nicht zu uns finden, wir sie über die gewählten Kanäle nicht erreichen, müssen wir folglich zu ihnen gehen. Daher ging ich in Integra­tions- und Sprach­kurse, besuchte Flücht­lings­cafés und migran­ti­sche Vereine; sogar nach dem Freitags­gebet durfte ich unser Projekt vorstellen. Nach und nach trugen wir auf diese Weise Objekte und die dazuge­hö­rigen Geschichten zusammen. Wir zeich­neten die Gespräche auf, transkri­bierten sie, recher­chierten, schrieben eine erste Fassung, erfragten zusätz­liche Infor­ma­tionen zu den mit persön­li­chen Erinne­rungen aufge­la­denen Gegen­ständen, um die Geschichten abzurunden. Doch ohne unsere engagierten Teilneh­me­rinnen und Teilnehmer, die uns zahlreiche weitere Personen vermit­telten, hätten wir nicht annähernd so viele Geschichten zusam­men­tragen können. Dafür können wir ihnen nicht genug danken. Der Weg zu einer neuen Objekt­ge­schichte war meist kein direkter, eher ein langwie­riger Prozess: Nicht selten war der erste Impuls der meisten Angespro­chenen, sie hätten doch gar nichts zu erzählen. Mitge­bracht beweist das Gegenteil.

Kokeshi aus Japan
Kokeshi aus Japan

Wenn Tania D. aus Italien erzählt, ihr Bruder habe auf der Reise nach Sardinien immer die Tunnel in der Schweiz gezählt, um abschätzen zu können, wie weit sie schon gekommen seien, dann löste das auch Erinne­rungen an meine Sommer­ur­laube im damaligen Jugosla­wien aus. Nur haben wir immer die Tunnel in Öster­reich gezählt. Wenn Rojin K. B. aus dem Irak erzählt, sie habe in ihrer Kindheit ein Spiel namens Penjokane gespielt, bei dem es galt, zunächst einen Stein in die Luft zu werfen und sodann, während der erste noch in der Luft ist, einen zweiten vom Boden aufzu­heben, ehe in der nächsten Runde dann zwei Steine aufge­hoben werden mussten und so weiter und so fort, dann versetzte mich das an den Strand der monte­ne­gri­ni­schen Adria­küste zurück. Denn das Spiel haben wir dort auch gespielt. Wenn ein Freund mir von seinem winzigen Anstecker aus Argen­ti­nien erzählt, an den ich mich plötzlich erinnern kann, da er diesen tatsäch­lich immer am Kragen seines Polohemds getragen hat, so ruft dies Erinne­rungen an unsere gemein­same Jugend­zeit hervor. Oder die Objekt­ge­schichte meiner Mutter, mit der unser Projekt begann, eine Geschichte von einem Objekt, das bei uns zu Hause immer präsent war, dem ich jedoch zu keinem Zeitpunkt diese, ja überhaupt eine Bedeutung zugeschrieben habe, dann bekommt auch diese Geschichte, wie die zuvor genannten, eine zusätz­liche, persön­liche Bedeutung für mich. „Und mit einem Mal war die Erinne­rung da,“ schreibt Marcel Proust in seinem Roman Auf der Suche nach der verlo­renen Zeit. Die ersten Rückmel­dungen unserer Leserinnen und Leser deuten an, dass es vielen von ihnen nicht anders geht. Manch einer hat sogar dasselbe Objekt als „Urlaubs­mit­bringsel“ zuhause stehen – verbunden mit einer eigenen Geschichte.

Alte Milchkanne aus Frankreich
Milch­kanne aus Frankreich 

Die Geschichten in diesem Band sind so lustig wie traurig, roman­tisch, mitunter sogar gefähr­lich, sie sind aufrichtig und vor allem Teil der Geschichte dieser Stadt, die sie zusammenbringt.

Maniokwurzel aus Burundi
Maniok­wurzel aus Burundi

Alexander Kraus/Aleksandar Nedel­kovski (Hg.), Mitge­bracht. Eine Zuwan­de­rungs­ge­schichte Wolfs­burgs. ecrivir Verlag, Hannover 2020; 303 S., zahlreiche farbige Abbildungen.

Laden­preis: 19,95 Euro

Das Buch kann im IZS und über den Buchhandel (Stilles Buchhand­lung, Buchhand­lung Sopper in Vorsfelde, Vesper­mann am Hansa­platz) käuflich erworben werden.

Hier geht es zur IZS.

Die Fotos wurden aus der Publi­ka­tion Mitge­bracht abfotografiert.

(Ausgabe 13, Sommer 2021)

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