Telefon­seel­sorge

Bei Anruf Empathie

Tu Gutes. Und rede nicht darüber. Kein Sterbens­wört­chen über die, die an 365 Tagen rund um die Uhr im Einsatz sind; keine Tage der offenen Tür; keine Fotos in der Tages­zei­tung: Die Telefon­seel­sorge ist Wolfs­burgs verschlos­senste gemein­nüt­zige Einrich­tung – damit die, die Hilfe suchen, sorgen­frei ihr Herz öffnen können.

Ortstermin in, nun, irgendwo in Wolfsburg: Es gibt keinen Wegweiser, kein Klingel­schild. Man muss schon wissen, wo die Büros sind; muss einen Termin haben, um einge­lassen zu werden. Doch die vermeint­liche Geheim­nis­krä­merei dient nicht nur dem Schutz der Helfer. Sie baut zugleich Hemmschwellen ab, denn: Wer nicht weiß, dass womöglich der Nachbar oder die Arbeits­kol­legin eine der über 70 Ehren­amt­li­chen der Einrich­tung ist, greift mit weniger Scham und Scheu zum Telefon­hörer. „Daher wissen auch nur die engsten Famili­en­mit­glieder überhaupt von der Tätigkeit“, betont Leiterin Petra Kretschmer.

Anony­mität ist oberstes Gebot

Ohnehin ist Anony­mität oberstes Gebot: keine Rufnum­mern­an­zeige, kein Eintrag auf der Telefon­rech­nung und sowieso keine Namen. Gegenüber Außen­ste­henden gilt strengste Schwei­ge­pflicht. Und selbst in den Büros wird nicht über Anrufe und Anrufer gespro­chen – höchstens anony­mi­siert im Rahmen der Super­vi­sion. Mit diesem regel­mä­ßigen Gesprächs­an­gebot helfen Psycho­logen den Telefon­seel­sor­gern dabei, Gehörtes und damit auch Erlebtes zu verar­beiten. Schließ­lich offen­baren sich die Anrufer den Mitar­bei­tern gerade in schweren Lebens­krisen: Da geht es um Einsam­keit und Existenz­angst, aber eben auch um Gewalt­er­fah­rung und sexuellen Missbrauch. Und gut zwei Prozent der Anrufe haben Suizid zum Thema: Mal ist es die Verar­bei­tung eines Versuchs, mal die Androhung eines Vollzugs.

Was als Verhält­nis­wert gering erscheint, offenbart in absoluten Zahlen die Bedeutung für die Ehren­amt­li­chen: Von den rund 14.500 Anrufen jährlich, welche die Telefon­seel­sorger entge­gen­nehmen, sind fast 300 solchen Inhalts. „Als Mitar­beiter mit Selbst­tö­tung konfron­tiert zu sein, ist so gut wie sicher“, unter­streicht die Pasto­ral­psy­cho­login: „Besonders in solch einem Fall muss man wissen, was man sagt und wie man es sagt.“

Kompetenz ist ein Versprechen

Dieses Was und Wie ist Teil einer Ausbil­dung, die 120 Stunden umfasst und sich über ein Jahr erstreckt. Wöchent­lich treffen sich angehende Telefon­seel­sorger, lernen Gesprächs­füh­rung und aktives Zuhören, erarbeiten sich psycho­lo­gi­sche und metho­di­sche Grund­lagen, schulen ihre Stimme und ihre Selbst­wahr­neh­mung. Danach starten sie zunächst in ein Mentoren-Programm – und bilden sich auch später im aktiven Dienst regel­mäßig weiter: „Die Kompetenz unserer Ehren­amt­li­chen ist ein Verspre­chen an jeden, der anruft“, erklärt Petra Kretschmer.

Und diese Kompetenz liegt nicht im Reden, sondern im Zuhören. Telefon­seel­sorger leisten Hilfe zur Selbst­hilfe, zur Selbst­er­kenntnis, zur Selbst­re­fle­xion. Sie unter­stützen den Anrufer lediglich dabei, vermeint­lich verfah­rene Situa­tionen aus neuen Blick­win­keln zu sehen, geben aber selbst keine Perspek­tiven vor. Sie empfehlen also niemandem die Ehebe­ra­tung, sondern beschreiben sie als gute Möglich­keit, an einer Beziehung zu arbeiten. Denn: „Ratschläge sind immer auch Schläge“, erläutert die Leiterin. Folglich stehen die Mitar­beiter der Insti­tu­tion auch nicht in Konkur­renz zu Psycho­logen, Ärzten und Ämtern – sondern stellen den Gang dorthin als Lösungsweg dar. Nicht im Sinne einer Diagnose, sondern als Option.

Dass ein Gespräch an diesen Punkt gelangt, dafür braucht es erst einmal Geduld: „Es kann passieren, dass die Person am anderen Ende fünf Minuten lang weint, ehe sie etwas sagen kann“, berichtet Petra Kretschmer. Und zum Beispiel bei Missbrauch wird das eigent­liche Trauma unter massiven Schichten banaler Alltags­pro­bleme vergraben. „Es ist eine Sache der Erfahrung, verlangt aber auch ein hohes Maß an Empathie, die entspre­chenden Zwischen­töne heraus­zu­hören“, beschreibt die Leiterin.

Das aktive Zuhören ist wichtiger als das Reden

Ohnehin ist dieses Zuhören in der Telefon­seel­sorge nichts Beiläu­figes, sondern eine aktive, stets konzen­trierte Tätigkeit: Eine Schicht dauert daher lediglich vier Stunden; ein Telefonat jedoch so lange, wie nötig. „Wir sind nicht von den Gebüh­ren­ord­nungen der Kranken­kassen durch­ge­taktet, sondern können uns für jeden Menschen die Zeit nehmen, die er in seiner Situation gerade benötigt“, so Petra Kretschmer. Trotzdem ist bei der Telefon­seel­sorge niemals besetzt: Sind die Leitungen in Wolfsburg belegt, wird das Gespräch an eine Insti­tu­tion in der Nähe weiter­ver­mit­telt. „Auf diese Weise können wir auch darauf Rücksicht nehmen, wenn zum Beispiel eine Frau lieber mit einer anderen Frau sprechen möchte“, erklärt sie.

Und auch dem sich ändernden Kommu­ni­ka­ti­ons­ver­halten passt sich die Insti­tu­tion an: Neben der Seelsorge am Telefon wird das offene Ohr mittler­weile auch per E‑Mail und Chat angeboten – selbst­ver­ständ­lich kostenlos. „Diese digitalen Kanäle nehmen die Menschen von Jahr zu Jahr stärker an“, berichtet die Pasto­ral­psy­cho­login. Auch in ihrer Gesamt­heit steigt die Anzahl derer, die bei der Telefon­seel­sorge Hilfe suchen – nicht exponen­tiell, wohl aber stetig: „Vielleicht auch, weil wir gerade dann erreichbar sind, wenn Famili­en­mit­glieder schlafen – und auf eine Art und Weise, bei der man nicht befürchten muss, von Arbeits­kol­legen gesehen zu werden“, vermutet Petra Kretschmer.

Und wohl auch, weil über das gute Tun nicht geredet wird.

Alexander Kales

DEIN WOLFSBURG, 2019

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