Tunesischer Gastarbeiter

Tunesi­sche „Gastar­beiter“ in Wolfsburg

Teil 6 des Topthemas “Zusammen sind wir Wolfsburg”:

Tunesi­sche „Gastar­beiter“ in Wolfsburg

Das Jahr 1955 markiert mit dem Beginn der sogenannten ‚Wirtschafts­wun­der­jahre‘ für die Bundes­re­pu­blik Deutsch­land eine Zäsur. Die Fotografie vom milli­onsten VW-Käfer und dem VW-General­di­rektor inmitten der Arbeiter des Automo­bil­kon­zerns (1955) ist eine jener Aufnahmen, die fest im kollek­tiven Bildge­dächtnis dieser Jahrzehnte verankert sind. 

Gleiches gilt für das Foto des Portu­giesen Armando Rodrigues de Sá, das ihn samt geschenktem Moped 1964 am Bahnhof in Köln-Deutz als milli­onsten „Gastar­beiter“ zeigt. Es waren Arbeiter wie Rodrigues de Sá, die einen wesent­li­chen Teil zum wirtschaft­li­chen Erfolg der Bundes­re­pu­blik beitrugen. Voran­ge­gangen waren sogenannte bilate­rale Anwer­be­ab­kommen, die 1955 mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechen­land, sodann mit der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugosla­wien (1968) abgeschlossen worden waren, um das deutsche Wirtschafts­wachstum durch den Zuzug temporär beschäf­tigter auslän­di­scher Arbeit­nehmer zu unter­stützen und zu fördern.

Die ersten „Gastar­beiter“ aus dem Maghreb-Staat kamen 1970 in Wolfsburg an – insgesamt 746 Tunesier waren in der Stadt offiziell gemeldet. Nach den Italie­nern bildeten sie die zweit­größte Gruppe an auslän­di­schen Arbeits­kräften im Volks­wa­gen­werk. Trotz einer hohen Fluktua­tion, die im Übrigen für alle „Gastarbeiter“-Gruppen festzu­stellen war, wurden bis zum Anwer­be­stopp Ende 1973 etwa 2.600 Tunesier im Werk angestellt. Ihre Beweg­gründe zur Migration lagen neben den guten Verdienst­aus­sichten und dem möglichen Erwerb neuer beruf­li­cher Quali­fi­ka­tionen auch in der verhei­ßungs­vollen freiheit­li­chen und urbanen Lebens­weise, die die westdeut­sche Gesell­schaft versprach, und in der Möglich­keit, sich der familiären und sozialen Kontrolle zu entziehen (1).

Die meisten von ihnen reisten vom tunesi­schen Hafen La Goulette über das Mittel­meer nach Italien und von dort aus per Bahn nach Wolfsburg. Vorläu­fige Endsta­tion waren meistens die neu errich­teten Wohnblöcke in Kästorf. Die persön­liche und auch staat­liche Intention, lediglich vorüber­ge­hend ein paar Jahre in Deutsch­land zu bleiben – deswegen auch der Begriff „Gast“-Arbeiter –, um Geld zu verdienen und dann wieder in die Heimat zurück­zu­kehren, teilten die tunesi­schen „Gastar­beiter“ mit ihren Kolle­ginnen und Kollegen aus Italien, Jugosla­wien, Griechen­land oder der Türkei. Viele sind indes geblieben. „Tatsache ist, dass wir nicht nur ein Teil der deutschen Bevöl­ke­rung geworden sind“, wie es der Wolfs­burger Abdel­kebir Gritli in einem 2004 geführten Interview zum Ausdruck brachte: „Wir gehören einfach zu dieser unzer­trenn­baren Kette dazu.“

Aleksandar Nedel­kovski

(1) Sara Hamoussi-Makina, „‚Vom Gast zum Gastgeber‘ – 50 Jahre Tunesier in Wolfsburg“, in: Das Archiv. Zeitung für Wolfs­burger Stadt­ge­schichte, Jg. 5 (2020), Nr. 18, S. 6–14, hier S. 6.

Beitrags­bild: Tunesi­scher Gastar­beiter, © IZS

DEIN WOLFSBURG, Ausgabe 15, Sommer 2022

Hier geht es zum Film:

Von Tunis nach Wolfsburg – ein halbes Jahrhun­dert Geschichte: Ein Film, der inter­es­sante und berüh­rende Einblicke in ein halbes Jahrhun­dert tunesi­sche Geschichte in Wolfsburg ermöglicht.

Weiter zum Teil 7 “Einer für alle, alle für einen” des Topthemas:

Kommentare 1
Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Das könnte dir auch gefallen