Von Schnittwunden und Schnittstellen
Elektronische Krankenakte, Algorithmen zur Erstellung von Diagnosen, Tele-Arzt: Für das Gesundheitswesen eröffnet die Digitalisierung neue Möglichkeiten. Wie weit ist die Entwicklung? Ein Gespräch mit Stadträtin Monika Müller (Dezernat für Soziales und Gesundheit, Klinikum, Sport) und Professor Matthias Menzel (Chefarzt am Klinikum Wolfsburg).
Frau Müller und Herr Professor Menzel, lassen Sie uns über Digitalisierung im Gesundheitswesen sprechen. Was verbinden Sie damit?
Monika Müller: Aus Patientensicht bedeutet die digitale Entwicklung, dass eigene Gesundheitsdaten gesammelt werden und abrufbereit sind – von jedem, den der Patient dazu berechtigt. Ziel ist, dass wichtige Informationen stets zur Verfügung stehen und jedem Patienten schnellstmöglich die richtige Behandlung zuteilwird. Und, ganz wichtig: Digitalisierung im Gesundheitswesen meint auch, dass der Schutz der Daten funktioniert.
Matthias Menzel: Daten erfassen, weitergeben und sichern – das sind die wichtigen Themenfelder. Wir Mediziner wünschen uns, dass Digitalisierung die Arbeit leichter macht. Diese Hoffnung hat sich nicht überall erfüllt: Ein Stück Papier zu beschreiben, ist an vielen Stellen immer noch einfacher als die schnelle Datenerfassung. Wir hoffen auch, dass wir durch künstliche Intelligenz in den vorhandenen Gesundheitsdaten neue Zusammenhänge erkennen können, die wir in der losen Blattsammlung nie erkennen würden.
Wie weit sind Sie?
Matthias Menzel: Im Klinikum Wolfsburg haben wir ein volldigitales Laborsystem, das von der Untersuchungsbeantragung bis zur Befundübermittlung papierlos arbeitet. Röntgenbilder werden digitalisiert erstellt, gespeichert und an die Arbeitsplätze weitergegeben. Das Klinikinformationssystem, also die Betriebssoftware des Krankenhauses, fasst alle diese Patientendaten zusammen und stellt sie als papierlose Akte zur Verfügung. Auch im Projekt Tele-Notarzt wollen wir digitale Medientechnik nutzen, um die notärztliche Versorgung zu unterstützen. In der Summe ist es aber so, dass die Entwicklung ganz am Anfang steht. In vielen Fällen endet die Digitalisierung an der Grenze des Krankenhauses.
“Schnittwunden kann die Digitalisierung nicht heilen”
Monika Müller: Wichtig ist, dass alle Akteure im Gesundheitswesen eingebunden werden – vor allem auch niedergelassene Ärzte und der Pflegedienst, die den Patienten nach dem Klinikaufenthalt übernehmen. Bei Menschen mit Demenz ist beispielsweise die Einnahme von Medikamenten ein großes Problem, da diese von Dritten kontrolliert werden muss – mit der Datenweitergabe mittels App wäre dies lösbar. Ein Vorteil ist auch, dass viele Untersuchungen nicht wie bislang oft mehrfach gemacht werden. Fest steht: Schnittwunden kann die Digitalisierung nicht heilen, im Gesundheitssystem die Schnittstellen überwinden jedoch schon.
Wie arbeiten Stadt Wolfsburg und Klinikum Wolfsburg zusammen?
Monika Müller: Die Stadt ist Klinikumsträger und das Klinikum Teil der Digitalisierungsstrategie, die Wolfsburg gemeinsam mit Volkswagen ausgerufen hat. Diese städtische Verankerung sorgt für eine hohe Datensicherheit, da die IT-Landschaft des Klinikums in die der Stadt eingebettet ist. Der Gesetzgeber plant zudem neue Gesetze zur Digitalisierung im Gesundheitswesen. Wichtig ist, dass der Patient die Entwicklung annimmt und will. Für viele ist der Nutzen noch nicht erkennbar.
Matthias Menzel: Jeder wird zustimmen, dass es gut ist, Informationsvielfalt und Algorithmen für bessere Diagnosen einzusetzen. Auf der anderen Seite steht die Angst vor dem gläsernen Patienten. Wenn es nicht gelingt, die Vorteile der Entwicklung zu erklären und die Menschen mitzunehmen, werden sie sich entmündigt fühlen und sich abwenden.
Was wünschen Sie sich, damit die Entwicklung in die richtige Richtung geht?
Monika Müller: Ich wünsche mir, dass Patienten, Ärzte, Gesundheitswesen und Politik gemeinsam – ein durchaus kritisches – Vertrauen gegenüber der Digitalisierung entwickeln. Zurzeit gibt es große Hoffnungen und zugleich viel Kritik, dabei braucht es vor allem gegenseitiges Vertrauen.
Matthias Menzel: Ich wünsche mir, dass im Gesundheitssystem alle Gruppen mit einer gemeinsamen und lauten Stimme sprechen. Damit wir über die Grenze des Krankenhauses und der ambulanten Versorgung hinweg eine digitale Straße bauen – und so medizinische Daten im Sinne des Patienten austauschen und nutzen können.
Stefan Boysen
Kommentare 2