Mit Herz und Pfote
Johannes und Enya bilden ein gutes Team, so wie es andere Kinder und ihre Hunde auch tun. Johannes ist neun Jahre alt, besucht die Grundschule Ehmen und hört gerne Musik von Mark Forster und Johannes Oerding. Er ist riesiger Fußballfan, kickt für den VfB Fallersleben, und mit seiner Dauerkarte jubelt er auf der Tribüne der Volkswagen Arena dem VfL Wolfsburg zu. Immer an seiner Seite ist Enya, die ein typischer Labrador ist: herzensgut, clever und nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen. Was die beiden von anderen Kindern und ihren Hunden unterscheidet, ist die Krankheit von Johannes. Er ist Diabetiker und Enya sein Assistenzhund.
Jeder kennt Blindenhunde, die blinde oder sehbehinderte Menschen durch den Alltag begleiten und sie dabei unterstützen, sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden. Diabetiker-Warnhunde dagegen sind eher wenigen geläufig. Auch Johannes’ Mutter Nicole Tietz war nicht bewusst, was diese Hunde zu leisten imstande sind, bis sie im vergangenen Jahr eine Doku im Fernsehen sah. Heute, knapp eineinhalb Jahre später, vertraut die Familie Tietz selbst auf die Dienste von Assistenzhündin Enya, die Johannes nicht von der Seite weicht. Dass sie immer in seiner Nähe ist, hat einen wichtigen Grund. „Enya bemerkt, wenn der Blutzucker von Johannes fällt, und warnt uns dann“, sagt Nicole Tietz, „es ist faszinierend, wie gut ihr das gelingt.“
Was Enya für dieses Talent benötigt, ist zuallererst ihre trainierte Spürnase. Die ist darauf abgerichtet, Unterzuckerungen zu riechen. Fällt der Blutzucker, sendet der Körper laut Nicole Tietz über den Schweiß oder Atem einen charakteristischen und ammoniakartigen Geruch aus, der für die feine Nase von Diabetiker-Warnhunden ein Signal ist. Ihre Aufgabe ist es dann, auf die Gefahr hinzuweisen, sodass Diabetiker Gegenmaßnahmen einleiten können – etwa auf die Schnelle einen Traubenzucker zu sich nehmen oder etwas Zuckerhaltiges trinken, um so die Blutzuckerwerte steigen zu lassen.
Tagsüber ist Enya nur dann nicht bei Johannes, wenn er in der Schule ist. Nachts wacht sie im Kinderzimmer an seinem Bett über ihn und seinen Stoffwechsel. Die Hündin hat gelernt, die Familie Tietz auf verschiedene Weise auf Johannes’ Blutzuckerschwankungen aufmerksam zu machen. Im Hausflur auf dem Boden liegt eine Hundeklingel. „Wenn Johannes unterzuckert, drückt Enya die Klingel mit ihrer Pfote oder Schnauze und holt so Hilfe.“ Darüber hinaus hat sie sich die Fähigkeit angeeignet, das Notfall-Set mit Traubenzucker & Co zu packen und zu apportieren. Auch wenn die Familie unterwegs ist, haben die Eltern in einem Rucksack diese Tasche immer dabei. Wenn Johannes’ Blutzucker fällt, wird Enya unruhig und springt Frauchen Nicole oder Herrchen Dirk an.
Die Diagnose der Ärzte ist noch recht frisch. Gerade macht sich Johannes damit vertraut, wie die Therapie seine Blutzuckerwerte beeinflusst und die Stoffwechselschwankungen mindert. „Johannes ist noch mitten in der Einstellungsphase“, erzählt Nicole Tietz, deswegen müsse Enya „mehrmals in der Woche“ vor der Unterzuckerung warnen. Zum Assistenzhund ist sie sozusagen geboren worden. Weil Labradore familienfreundlich, von Natur aus neugierig und leicht zu motivieren sind, weisen sie gute Eigenschaften auf, um ihre wichtige Aufgabe übernehmen zu können.
Genauso wesentlich wie die Hunderasse ist das Training, das Diabetiker-Warnhunde erhalten. Enya war gerade zwei Monate alt, als sie zu den Tietz’ kam, und bereits vier Wochen später startete ihre Ausbildung. „Je früher die beginnt und je eher der Hund für den Geruch sensibilisiert wird, desto größer ist die Erfolgswahrscheinlichkeit“, weiß Nicole Tietz.
Denn die Garantie für eine erfolgreiche Ausbildung gibt es nicht. Um die Chancen zu verbessern, hat die Familie einiges in Kauf genommen, darunter lange Autofahrten nach Stade. Zu Ausbildungsbeginn zweimal monatlich besuchte sie die Hundetrainerin vor den Toren Hamburgs. Neben der jungen Enya war auch Johannes jedes Mal mit von der Partie, um die Bindung zwischen den beiden von Beginn an zu stärken. Johannes’ Schule hatte ihn für die vielen Fahrten vom Unterricht befreit.
In regelmäßigen Videokonferenzen verabredeten Trainerin und Johannes’ Eltern die Lektionen für das Heimtraining. Eine immer wiederkehrende Übungseinheit drehte sich um ein T‑Shirt und einen Gefrierbeutel. Darin verstaut war Johannes’ Kleidungsstück, das – mit dem typischen Ammoniakgeruch versehen – versteckt wurde. Schaffte Enya es, den Beutel zu erschnüffeln, wurde sie mit einem Leckerli und jede Menge Lob belohnt.
Auf diesem Weg hat die Hündin gelernt, sich auf den besonderen Duft zu konzentrieren und alle anderen Gerüche um sie herum zu ignorieren. Weil Enya so lernwillig ist und ihre Sache ausgesprochen gut macht, durfte sie ihre Prüfung bereits nach einem Jahr ablegen – und das mit Erfolg. „Sie ist halt ein kleiner Streberhund“, sagt Nicole Tietz lachend. „Wenn sie die Notfalltasche bringt, ist sie jedes Mal stolz wie Bolle. Für Enya ist das alles ein Spiel, das ihr großen Spaß macht.“
Wie viel die Ausbildung zum Assistenzhund gekostet habe? „So viel wie ein Kleinwagen, doch das war es uns wert.“ Krankenkassen leisten keinen Zuschuss, weil es bisher nicht genügend wissenschaftliche Studien gibt, die die Fähigkeiten von Diabetiker-Warnhunden zweifelsfrei untermauern. Auch nach Ende der Ausbildung zum Assistenzhund geht das Training in Eigenregie weiter. „Wie ein Profisportler muss auch Enya immer weiter üben, um ihr Leistungslevel zu halten.“ Obwohl an Johannes’ Oberarm ein Sensor klebt, der seinen Blutzucker misst, möchte Nicole Tietz die Nähe von Enya nicht missen. Die Technologie könne ausfallen, meint sie, „der Hund dagegen nicht – der schnuppert die ganze Zeit“. Das gibt der Familie ein Gefühl der Sicherheit.
Wenn Johannes mit Enya in der Stadt unterwegs ist, dann fallen die beiden auf, weil die Hündin die leuchtende Kenndecke des Diabetikerwarnhund-Netzwerkes trägt. „Viele Leute machen uns dann Platz“, erzählt Nicole Tietz. „Andere wiederum sind neugierig, bleiben stehen und fragen, was der Hund denn Besonderes könne.“ Sicher ist: „Jeder findet Enya klasse.“ Auch in Geschäften und Supermärkten ist die Hündin gerne gesehen. Wer auch immer von der Schutzengelmission mit Herz und Pfote erfährt, wird zu Enyas Fan. „Bis jetzt war die Resonanz nur positiv.“
Familie Tietz baut darauf, dass Johannes mit jedem neuen Tag dazulernen, seinen Alltag meistern und weitgehend ein normales Leben führen wird. „Wir wollen dahinkommen, dass Enya und das Blutzuckermessgerät so wenig wie möglich zum Einsatz kommen müssen“, sagt Nicole Tietz. Auch wenn die Einstellungsphase von Johannes vorüber ist und die Selbstkontrolle des Blutzuckers gut funktioniert, wird Enya den Beweis dafür erbringen, dass sie unschätzbar wertvoll ist. Sie ist nicht nur eine hervorragende Diabetiker-Warnhündin, sondern auch eine getreue Weggefährtin. „Wenn Johannes einmal down ist, dann ist es Enya, die ihn emotional aufbaut. Er ist unglaublich froh darüber, dass sie da ist und auf ihn aufpasst.“
Stefan Boysen