„Vom Migranten zum Ehrenbürger war es ein weiter Weg“
„Avanti! Vom Arbeitsmigranten zum Ehrenbürger“ lautet der Titel der Autobiographie von Rocco Artale, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation. ‘Avanti’, das italienische Wort für ‘Vorwärts’, passt perfekt zu seiner Lebensgeschichte. Es spiegelt den unermüdlichen Optimismus von Rocco Artale und seine Entschlossenheit wider, nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern auch das der Gemeinschaft in Wolfsburg positiv zu gestalten. Seit seiner Ankunft im Frühjahr 1962 aus Italien, als er bei Volkswagen als ‘Gastarbeiter’ begann, hat er diese Einstellung stets gelebt. Dies wird auch in unserem Gespräch, das wir im Pinocchio in der Goethestraße führten, spürbar.
Herr Artale, Sie kommen ursprünglich aus den Abruzzen, östlich von Rom, und leben seit vielen Jahren in Wolfsburg. Wo ist heute Ihre Heimat?
Mein Buch enthält drei Liebeserklärungen. Die erste gilt dem fabelhaften VW Käfer. Ohne ihn wäre ich nie nach Wolfsburg gekommen – und hätte auch nicht meine Frau Hannelore kennengelernt, der meine zweite Liebeserklärung gehört.
Und die dritte Liebeserklärung?
Die richtet sich an Wolfsburg, das zu meiner Heimatstadt geworden ist. In Wolfsburg lebe ich seit 1962, hier bin ich mit meiner Frau 60 Jahre verheiratet, habe zwei Kinder und vier Enkelkinder. Wenn ich mich hier umsehe – das Pinocchio und die vielen anderen Geschäfte mit italienischem Flair –, dann sehe ich auch ein Stück von dem, woran ich mitgewirkt habe. Ich war an vielen Entscheidungen beteiligt, die die Stadt Wolfsburg zu dem gemacht haben, was sie heute ist.
Gibt es ein Projekt, an das Sie mit Freude zurückdenken?
Da fällt mir die Gründung der deutsch-italienischen Schule in Kreuzheide ein. Gemeinsam mit Antonio di Virgilio, dem Leiter des Ausländerreferats, habe ich damals viele Stunden darüber nachgedacht, wie wir den italienischen Kindern in Wolfsburg helfen können. Und auch ihren Eltern, um sie in die Lage zu versetzen, den Kindern bei den Schulaufgaben zu helfen. Daraus entstand die Idee der deutsch-italienischen Schule, die heute Leonardo da Vinci Gesamtschule heißt. Diese Schule war beispielhaft, nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa.
Wie meinen Sie das?
Das Zusammenwachsen von Deutschen und Italienern hier in Wolfsburg, insbesondere zwischen Schülern und Lehrern, hat ein Verständnis gefördert, das weit über unsere Stadtgrenzen hinausgeht. Es hat zur Völkerverständigung beigetragen.
Gibt es eine Aufgabe, die Sie in Ihrem Engagement für Wolfsburg als besonders bedeutsam empfunden haben?
Ich war 26 Jahre lang Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall. Meine Aufgabe war es nicht nur, die Interessen der italienischen Mitarbeiter zu vertreten, sondern die aller Arbeitnehmer. Ich habe mich für mehr Gleichberechtigung, bessere Arbeitsbedingungen und sichere Arbeitsplätze eingesetzt. In dieser Funktion wurde mir klar, dass man, wenn man wirklich etwas bewegen möchte, politisch aktiv sein muss. Als Ratsherr hatte ich die Möglichkeit, Wolfsburgs Entwicklung mitzugestalten. Auf diesen Beitrag bin ich stolz.
Was hat Sie dazu bewogen, über all das und vieles mehr ein Buch zu schreiben?
Mein Buch habe ich zwar meinen Söhnen und Enkelkindern gewidmet, doch dahinter steckt noch mehr. Der letzte Anstoß kam, als ich ‘Gastarbeiter-Welt’ las, ein Buch, das die Geschichte der Integration in Wolfsburg behandelt. Ich war ein bisschen verärgert, denn vieles darin entsprach nicht meinen eigenen Erfahrungen. Das brachte mich auf die Idee: Warum nicht selbst ein Buch schreiben? Schließlich habe ich viel erlebt. Vom Migranten zum Ehrenbürger war es ein weiter Weg.
Welche Botschaft verbinden Sie mit Ihrem Buch?
Mir ist wichtig, dass die kommenden Generationen wissen, wie es in Wolfsburg wirklich war. Behauptungen, wir Italiener hätten eine Parallelstruktur aufgebaut und nichts mit unserer Freizeit anzufangen gewusst, stimmen nicht. Ich wollte eine wahrheitsgetreue Geschichte schreiben für und über die Stadt – auch darüber, wie wir damals in provisorischen Baracken gelebt haben. Es soll im Gedächtnis bleiben, dass auch die Italiener, die im VW-Werk gearbeitet haben, einen Beitrag zur Entwicklung Wolfsburgs geleistet haben.
Wie blicken die Menschen in Italien auf Rocco Artale?
Meine Verbindungen nach Italien sind nie abgerissen. Die Städtepartnerschaft zwischen Pesaro-Urbino und Wolfsburg durfte ich mitprägen. Zudem haben wir nach dem Erdbeben in den Abruzzen einen Freundschaftsvertrag mit Popoli abgeschlossen. Jedes Mal, wenn ich in Italien bin, empfinde ich es als wunderschön. Genau das ist die Brücke, die wir gemeinsam aufgebaut haben. Besucher aus Wolfsburg werden hier stets mit offenen Armen empfangen.
Herr Artale, wo bewahren Sie eigentlich Ihre Ehrenbürgerurkunde auf?
Sie hängt an der Wand in meinem Arbeitszimmer. Ich habe es nie angestrebt, Ehrenbürger zu sein, aber es ist wirklich ein schönes Gefühl.
Stefan Boysen
Dein Wolfsburg 4/2024