Erinnerungsstätte bei Volkswagen. Blick den Gang entlang.

Sechs Räume gegen das Vergessen

Sie ist ein Ort düsterer Geschichte und verzwei­felter Lebens­ge­schichten: die Erinne­rungs­stätte an die Zwangs­ar­beit auf dem Gelände des Volks­wa­gen­werks. Im Dritten Reich wurden 20.000 Menschen gezwungen, auf dem Werks­ge­lände in Wolfsburg zu arbeiten. An ihr Schicksal erinnert die Volks­wagen AG dort, wo Beschäf­tigte und Zwangs­ar­beiter während des Krieges Zuflucht suchten: in einem Luftschutzbunker.

Hinter dicken, kalten und fenster­losen Mauern ist das Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit einge­fangen. Früher gehörten Warten und Angst hier zum Alltag. Und die Hoffnung, dass der Bomben­hagel schnell vorüber­zieht. Mehrere hundert Frauen und Männer harrten an diesem finsteren Ort aus, bis die Luftan­griffe vorbei waren. Im engen Korridor, der zu dem Luftschutz­bunker führt, legt an der Wand ein langer, zackiger Riss Zeugnis ab vom Absturz eines ameri­ka­ni­schen Bombers, der das Volks­wa­gen­werk erschüt­tert hat. Heute, ein Dreivier­tel­jahr­hun­dert später, erfüllt der ehemalige Bunker einen anderen Zweck: Er behei­matet die Dauer­aus­stel­lung, die die Zwangs­ar­beit im Volks­wa­gen­werk dokumentiert.

Lange Zeit ist die Erinne­rung daran totge­schwiegen worden“, sagt Dieter Landen­berger. „Erst in den achtziger Jahren hat sich das geändert, als die Rolle des Volks­wa­gen­werks und die Unter­drü­ckung der Zwangs­ar­beiter im Natio­nal­so­zia­lismus auf Betreiben des Betriebs­rats der Volks­wagen AG erforscht wurden.“ Dieter Landen­berger leitet die Histo­ri­sche Kommu­ni­ka­tion von Volks­wagen. Das Unter­neh­mens­ar­chiv der Abteilung umfasst Dokumente, die anein­an­der­ge­reiht fünf Kilometer lang wären. Hinzu kommen fast eine Million Fotos, dazu eine große Anzahl Veröf­fent­li­chungen, Zeich­nungen, Filme und unzählige digitale Daten.

Auf dieses Archiv stützt sich die Unter­neh­mens­ge­schichte von Volks­wagen, und die Erinne­rungs­stätte an die Zwangs­ar­beit auf dem Gelände des Volks­wa­gen­werks unter der Halle 1 erzählt einen Teil von ihr. In sechs Räumen setzt sich Volks­wagen mit der Syste­ma­ti­sie­rung der Arbei­ter­aus­beu­tung ausein­ander – vom sozial­uto­pi­schen Projekt der Massen­mo­to­ri­sie­rung über die Auswei­tung der Zwangs­ar­beit und der Unter­ta­ge­ver­la­ge­rung der Produk­tion bis zur Befreiung der Zwangs­ar­beiter und KZ-Häftlinge.

Einer der Zwangs­ar­beiter war Pierre Bernard. Während seiner Jahre in Wolfsburg fertigte der Franzose einen Ring aus Aluminium – als Erinne­rung an sein Zuhause. Darin einge­ar­beitet: das Bild seiner Frau. Wie viele andere Ausstel­lungs­stücke ist auch dieser Ring eine Leihgabe jener, die ihrer Freiheit beraubt wurden. „Es herrschte ein strikter Unter­drü­ckungs­ap­parat“, sagt Dieter Landen­berger, „kleinste Verfeh­lungen wurden bestraft.“

In einer großen Studie haben die Histo­riker Hans Mommsen und Manfred Grieger das Ausmaß der Zwangs­ar­beit im Volks­wa­gen­werk unter­sucht. In den letzten Kriegs­jahren bestand die Beleg­schaft zu mehr als zwei Dritteln aus dienst­ver­pflich­teten auslän­di­schen Arbeits­kräften und Zwangs­ar­bei­tern. Darunter waren Franzosen, Nieder­länder, Polen und von 1941 an sowje­ti­sche Kriegs­ge­fan­gene. Einge­setzt wurden sie zur Herstel­lung von Rüstungs­gü­tern und Militär­fahr­zeugen. Die zivile Fahrzeug­pro­duk­tion war mit Kriegs­be­ginn einge­stellt worden.

In der Stadt des KdF-Wagens, wie Wolfsburg seiner­zeit hieß, wurden auch Gefangene aus Konzen­tra­ti­ons­la­gern zur Arbeit gezwungen. Ein Ausstel­lungs­raum schildert, dass während des Zweiten Weltkrieges schät­zungs­weise 5.000 KZ-Häftlinge Zwangs­ar­beit verrich­teten; unter anderem, um eine Leicht­me­tall­gie­ßerei zu bauen. Fotos zeigen die Baracke und den Wachturm des KZ-Außen­la­gers im Stadtteil Laagberg, wo ein Jahr vor Kriegs­ende 800 Häftlinge aus dem Konzen­tra­ti­ons­lager Neuen­gamme eintrafen. Hunger, Krankheit und Misshand­lungen prägten ihr Leben. Mehr als 130 Menschen starben bis zur Befreiung im Mai 1945. 

Am eindring­lichsten hält Ausstel­lungs­raum fünf die Erinne­rung wach. Schwarz auf weiß kommen in den Leucht­kästen die zu Wort, die am glaub­wür­digsten von der Repres­sion berichten können: die ehema­ligen Zwangs­ar­beiter selbst. Ihre Aussagen lassen erahnen, was sie erdulden mussten und welche Last sie heute noch tragen.

Für die Studie und zur Ausstel­lungs­vor­be­rei­tung sind mehr als zweihun­dert Inter­views mit Zeitzeugen geführt worden. Einer von ihnen ist Julian Banaś. Bei seinem Besuch in Wolfsburg sagte der Pole: „In Erinne­rungen an eine Zeit der Ernied­ri­gung der Menschen, in der ein Mensch als Gegen­stand behandelt wurde, zurück­zu­kehren, ist eine unange­nehme Angelegenheit.“ 

Beim Anschauen der Fabrik hatte ich Herzschmerzen, und ich musste mich setzen. So lebe ich den einen Tag mit all den Erinne­rungen, einen anderen Tag will ich das alles vergessen.“

Belgier Carlo von Troostenberghe

Auch Sara Frenkel gehört zu jenen, die zurück­ge­kehrt sind. Auch heute, mit Mitte 90, kommt sie noch zu Besuchen nach Wolfsburg. Ihr jahrzehn­te­langes Engage­ment gegen das Vergessen hat besondere Spuren hinter­lassen: Nach ihr wurde der Platz am Nordkopf benannt, auf dem das Zwangs­ar­bei­ter­denkmal steht. 

Die Gedenk­stät­ten­ar­beit von Volks­wagen-Auszu­bil­denden in Auschwitz, ihre Begeg­nungen mit polni­schen Jugend­li­chen und die Erinne­rungs­stätte an die Zwangs­ar­beit „sind heute fester Bestand­teil der Erinne­rungs­kultur bei Volks­wagen“, sagt Dieter Landen­berger. Seit 1999 gibt es die Ausstel­lung. Auch ein Gedenk­stein auf dem Werks­ge­lände macht auf die Zwangs­ar­beit aufmerksam. Dieter Landen­berger: „Die größte Sorge der noch lebenden ehema­ligen Zwangs­ar­beiter ist, dass ihr Schicksal eines Tages in Verges­sen­heit gerät. Die Volks­wagen AG hat die Aufgabe übernommen, ihnen diese Sorge zu nehmen.“ 

Der Besuch der Ausstel­lung ist nach Termin­ab­sprache möglich. Kontakt: (0 53 61) 92 56 67, history@volkswagen.de.

Stefan Boysen

Titelbild: Erinne­rungs­stätte im Volks­wa­gen­werk © WMG, Foto: Jasmin Guss

08/2023 (Dieser Artikel erschien zuerst in der DEIN WOLFSBURG Print­aus­gabe 8, 2018

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