Ein ständiges Klima der Angst. Das Aufbrechen sozialer Bindungen. Und ein Alleinherrscher, dem bedingungslos Folge zu leisten ist. Nein, ich spreche nicht von totalitären Regimen. Ich spreche vom Sportunterricht der 1990er-Jahre; dem finsteren Zeitalter von Völkerball, 800-Meter-Läufen und eigenverantwortlichen Mannschaftswahlen, deren einziges Ziel es war, die Klasse vor aller Augen vom sportiven Übermenschen im Klassenverbund ausgehend durchzuhierarchisieren.
Ich galt damals als Garant für den Sieg – des gegnerischen Teams. Nachdem ich mich durch eine Fußballsaison und zwei Jahre Badminton dilettiert hatte, untertraf ich alle Erwartungen schlussendlich beim Tischtennis. Mit dem „SSV Reislingen-Neuhaus Schüler 2“ pingpongte ich mich mehr schlecht als recht durch die Kreisklasse; nicht etwa aufgrund fehlenden Talents und Ehrgeizes, sondern aus zwei viel näherliegenden Gründen: Zum einen stärkten knallpinke Mannschaftsshirts mit Sponsorenaufdruck von „Helgas Partyservice“ (kein Witz!) nicht unbedingt das Selbstbewusstsein pubertierender Jungs. Zum anderen gab es den MTV Hattorf, der mit unseren knallpinken Mannschaftsshirts sprichwörtlich den Hallenboden aufwischte.
Okay, wir haben auch gegen Vorsfelde und den TV Jahn verloren und wurden daher im Gegensatz zu den sportiven Übermenschen vom „SSV Reislingen-Neuhaus Schüler 1“ auch nicht ein einziges Mal von Betreuer Andy zu McDonalds eingeladen, was übrigens bis heute an meinem Ego kratzt (auch kein Witz!). Aber vom MTV Hattorf geschrubbt zu werden, war immer etwas anderes. Das fühlte sich nicht an wie eine normale Niederlage; jeder 21:0‑Untergang schmeckte nach tiefer Schande. Bis heute – an dem Tag, an dem ich diese Kolumne schreibe – habe ich nicht verstanden, warum. Jetzt weiß ich es besser:
Wolfsburg ist sozusagen das geteilte Korea der Region 38.
Tatsächlich verläuft seit der Gebietsreform am 1. Juli 1972 eine Demarkationslinie durch die Stadt, unser ganz persönlicher 38. Breitengrad: zwischen dem Vorsfelder Norden, den Helmstedt abgegeben hat, und dem Fallersleber Süden, den Gifhorn beisteuerte. Und tatsächlich spürt der Urwolfsburger, dass diese Dualität auch nach 50 Jahren nicht überwunden ist. Konkret: Altstadtfest versus Eberfest. Heinrich Hoffmann versus Carl Grete. Feine Herren versus Junge Gesellschaft. Und auch bei den „Wolfsburger Nachrichten“ waren – jedenfalls zu meiner Zeit – Vorsfelde und Fallersleben streng getrennte Ressorts in einem gemeinsamen Büro.
Für mich als Reislinger war Hattorf folglich Diaspora; das Jahn-Gelände – um im reichlich wackeligen Bild zu bleiben – dagegen Teil der „demilitarisierten Zone“, neutraler Boden auf dem Gebiet des eigentlichen Wolfsburgs. Das ist nämlich bis zur Reform lediglich eine recht begrenzte Mittelstadt: 90.000 Einwohner, 35 Quadratkilometer klein und damit für Spätgeborene und Zugezogene geradezu irritierend kompakt, wenn sie die in den Marmorboden der Bürgerhalle eingelassene Stadtkarte aus den 1950er-Jahren entdecken und nicht bloß – auf dem Weg zum Standesamt etwa – darüber laufen: rote und schwarzen Sprenkel, die eingerahmt von weißen und schwarzen Linien das streng geometrische Muster aus quadratischen Fliesen aufbrechen.
Wie bei einem Bild von M. C. Escher versucht das Auge zunächst Halt zu finden, zu sehen, was nicht da ist: den Allersee zum Beispiel, aber da ist bloß der Schillerteich, den Kenner anhand der Insel identifizieren, der Neue Teich, der Krumme Teich. Denn alles übrige Gewässer liegt noch in Gifhorn oder Helmstedt. Erst mit Volkswagen-Werk und Bundesstraße gelingt die finale geografische Einordnung.
Ja, sapperlot: Kann denn nicht mal jemand die Karte aktualisieren? Hoffentlich nicht! Denn Titus Taeschner, Architekt des 1958 eingeweihten Wolfsburger Rathauses, hat mit der Bürgerhalle ein zeitloses Gesamtkunstwerk geschaffen; und gerade, dass der Plan mit Erwartungen bricht, passt so wunderbar zum Geist des Wolfsburger Rathausbaus: Er betont gerade nicht das Elitäre des Politischen, sondern öffnet sich mit einer großen Glasfront an der Westseite der Bevölkerung; er ist nicht Stein gewordene Machtdemonstration, sondern verkörpert mit seiner baulichen Trennung von Ratssitzungssaal, Verwaltungshochhaus und damaligem Amtsgericht auf der anderen Straßenseite der Pestalozziallee die Gewaltenteilung.
Titus Taeschner hat – gerade einmal zehn Jahre nach der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft – nicht bloß ein Rathaus entworfen. Sondern einen Leuchtturm für die Demokratie geschaffen.
Alexander Kales
Beitragsbild: © WMG
Ausgabe 16, DEIN WOLFSBURG, Herbst/Winter 2022