Der Kompromiss als Werkzeug
Freunde kann man sich aussuchen. Bei Verwandten wird das schon schwieriger. Und die Nachbarn sind nun einmal da. An vielen Grundstücksgrenzen und in vielen Treppenhäusern herrscht daher bestenfalls zwischenmenschlicher Waffenstillstand; bis der erste überhängende Brombeerstrauch oder das fünfte Partywochenende in Folge zum offenen Krieg führen – und letztlich zu rund 300.000 Nachbarschaftsklagen pro Jahr.
Für die Gerichte sind die meisten dieser Fälle eindeutig: Maximallautstärken fürs Musikhören, Höchstdauer fürs Duschen und Mindestabstände für Gartenzäune sind in Gesetzen und Urteilen festgezurrt. Doch auch wenn jeder Prozess mit einer Entscheidung endet, verlieren häufig beide Parteien. „Denn der eigentliche Konflikt zwischen den Nachbarn bleibt ungelöst“, erklärt Michael Melcher, der als Schiedsmann für Wolfsburgs Stadtmitte und Nordstadt zuständig ist.
“Die Unversöhnlichen versöhnen”
Gemeinsam mit Sonja Ketzler (Detmerode) und Bernd Wittig (Ehmen und Mörse) ist er einer von insgesamt 19 ehrenamtlichen Schlichter*innen am Amtsgericht Wolfsburg. Ihre Mission: die Unversöhnlichen versöhnen. Was nach zwanglosem Gesprächsangebot klingt, ist fest in den Prozess der Rechtsfindung eingebunden: Wer seine Nachbarn wegen Dauergrillens verklagen will, kommt am Schlichtungsverfahren in der Regel nicht vorbei. Bernd Wittig erklärt: „Ohne unterschriebenes Protokoll nimmt das Amtsgericht viele Prozesse im Nachbarschaftsrecht und Zivilrecht erst gar nicht an.“
Sowieso ist ein freiwilliges Schlichtungsverfahren häufig die beste Wahl: „Bei uns gibt es kein Gewinnen und kein Verlieren, kein Gut und Böse“, betont Sonja Ketzler. Nach einer erfolgreichen Verhandlung unterschreiben beide Parteien gemeinsam einen Vertrag; eine Basis, auf der neues Miteinander entstehen kann. „Ich erinnere mich an Gespräche, bei denen sich die Beteiligten nicht einmal im selben Raum aufhalten wollen – und am Schluss zusammen Kaffeetrinken gegangen sind“, erzählt Michael Melcher.
Brücken bauen und Kompromisse schließen
Bis Brücken über solch tiefe Gräben gebaut sind, vergeht viel Zeit: Bis zu vier Stunden dauert ein Termin; je nach Wolfsburger Stadtteil kommt es in 60 bis 80 Prozent der Fälle zu einer Einigung. In großen Baugebieten sind die Konfliktlinien häufig tiefer, weil sie sich über Jahrzehnte in das Miteinander gegraben haben. Doch auch auf den Dörfern lassen sich viele Fälle bereits als sogenannter Tür-und-Angel-Fall im Vor-Ort-Termin klären: „Bei Themen wie Bepflanzung oder Lärmbelästigung reicht meist ein klarer Verweis auf das Nachbarschaftsrecht“, betont Sonja Ketzler.
„Es ist allerdings nicht mehr so wie vor 30 Jahren, als Konflikte mit einem Kasten Bier geklärt wurden“, ergänzt Wittig. Beengtere Wohnverhältnisse, neue Lebensmodelle und kulturelle Vielfalt haben die Schlichtungsarbeit anspruchsvoller gemacht; und stellen hohe Anforderungen an die Schiedsleute, bei denen auch Fälle aus dem Strafrecht wie Beleidigung oder leichte Körperverletzung landen: „Man muss ein großes Maß an gesundem Menschenverstand, Lebenserfahrung und Menschenkenntnis mitbringen“, so Michael Melcher, und Sonja Ketzler fügt hinzu: „Aber genauso wichtig sind Empathie und die Fähigkeit, die richtigen Worte zu finden.“
Neben diesen persönlichen Kompetenzen können die Schiedsleute aber auch auf juristische Maßnahmen zurückgreifen: „Wir dürfen Ordnungsgelder verhängen und vollstreckbare Titel ausstellen – auch dafür wurden wir vereidigt“, berichtet Michael Melcher. Und der Vertrag, den die Parteien zum Abschluss des Schlichtungstermins unterschreiben, ist keine lose Erklärung, sondern 30 Jahre bindend. Aber, ergänzt Bernd Wittig: „Unser stärkstes Werkzeug ist und bleibt der Kompromiss.“
Alexander Kales
Schon gewusst?
Viele nachbarschaftsrechtliche und zivilrechtliche Angelegenheiten können Wolfsburger*innen von den Schiedsleuten am Amtsgericht klären lassen. Eine Liste der Schlichter*innen gibt es im Internet unter https://amtsgericht-wolfsburg.niedersachsen.de/startseite/service/schiedsleute/schiedsleute-65674.html.
Einen Schlichter benötigen mein Nachbar und mein Mann auch. Sie streiten sich nun schon seit einiger Zeit um einen Baum. Keinem von beiden soll er gehören, aber er muss dringend weg. Ich habe nun ein Unternehmen für Baumfällung organisiert. Dann hat das Drama endlich ein Ende.
Vielen Dank für diesen Beitrag zum Thema Grundgrenzen. Gut zu wissen, dass diese auch mit guter Kommunikation festgelegt werden können. Ich würde gerne meine Grundgrenze sichern lassen.