Im Gespräch mit Axel Pieper, Leiter der Selbsthilfekontaktstelle Wolfsburg
Eine Gruppe Leute sitzt in einem Stuhlkreis. Der erste bricht die Stille und beginnt mit: „Hallo, ich bin Alex und ich bin süchtig.“ Die Gruppe antwortet in gelangweiltem Singsang: „Hallo, Alex!“ Dann folgt die nächste aus der Runde: „Hallo, ich bin Lena und ich bin süchtig.“ Das ist das Bild, dass in den meisten Filmen und Serien von Selbsthilfegruppen vermittelt wird. Aber was ist Selbsthilfe eigentlich? Und ist es wirklich nur das, was in Unterhaltungsmedien über den Bildschirm flimmert?
In der Selbsthilfe geht es darum die eigenen Probleme in die Hand zu nehmen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten aktiv an deren Lösung zu arbeiten. Bei diesen Problemen kann es sich um körperliche oder psychische Erkrankungen oder um soziale Herausforderungen handeln. Mit diesem gemeinsamen Ziel treffen sich in Selbsthilfegruppen Betroffene oder Angehörige mit dem gleichen oder einem ähnlichen Problem. Durch Empathie und die eigenen Erfahrungen unterstützen sie sich gegenseitig.
Dabei sind die Probleme so vielfältig wie die Menschen selbst. Der eine hat mit Depressionen zu kämpfen. Ein anderer leidet an Migräne und wieder ein anderer muss sich täglich den Herausforderungen stellen, die eine Mehrlingsgeburt mit sich bringt.
In Wolfsburg gibt es mehrere Anlaufstellen, für alle, die bei einem Thema, das sie täglich vor Herausforderungen stellt, alleine nicht weiterwissen. Eine davon ist die Selbsthilfekontaktstelle des Paritätischen Wolfsburg.
Axel Pieper, Leiter der Selbsthilfekontaktstelle, weiß: „Selbsthilfe ist mehr als ein Stuhlkreis!“ Das klassische Reden über Probleme, Erfahrungen und Gefühle stellt zwar einen wichtigen Teil der Selbsthilfetreffen dar, darüber hinaus gibt es aber noch viele weitere Möglichkeiten. Diese wählt jede Gruppe für sich selbst. Denn jede Selbsthilfegruppe entscheidet autonom und selbstständig, wann, wo, wie oft und wie lange sie sich treffen möchte. Auch was während der Sitzungen gemacht werden soll, wird selbstständig entschieden. Selbsthilfegruppen sind nicht professionell geleitet. In den meisten Fällen übernehmen ein oder mehrere Gruppensprecher bzw. ‑sprecherinnen die Koordination und Moderation der Treffen.
Diese Personen sind selbst betroffen und haben in den meisten Fällen die Selbsthilfegruppe mit Unterstützung der Selbsthilfekontaktstelle selbst ins Leben gerufen.
Die Teilnehmer von Gruppen zur psychischen Gesundheit sprechen oft darüber, was ihnen seit dem letzten Treffen passiert ist und wie es ihnen geht. Im Anschluss geht es häufig darum zu ein oder zwei Problemstellungen, die von den Teilnehmern eingebracht werden, als Gruppe eine Lösung zu finden.
In Gruppen zur körperlichen Gesundheit geht es meist neben dem Befinden auch um neue Therapiemöglichkeiten und Medikamente.
Selbsthilfegruppen leben von der aktiven Gemeinschaft. Es werden externe Referenten eingeladen, Ausflüge und Workshops gemacht oder körperliche Aktivitäten in die Treffen eingebunden. So baut beispielsweise die Gruppe „Die Selbstläufer“ ihre Treffen zur seelischen Gesundheit und Stressminderung auf dem gemeinsamen Laufen an der frischen Luft auf. Einige Gruppen widmen sich auch der Öffentlichkeitsarbeit, um die Sichtbarkeit ihres Themas zu erhöhen und Veränderungen anzustoßen.
Der positive Effekt der Selbsthilfegruppe entsteht dabei durch das geteilte Problem, die gegenseitige Unterstützung und die Gemeinschaft. „Eine Selbsthilfegruppe ist kein Ersatz für eine Therapie“, betont Pieper. Bei einer Therapie wird man von einem Profi, sei es ein Therapeut oder ein Arzt, beraten. Im Unterschied dazu zeichnen sich Selbsthilfegruppen durch die emotional-mentale Unterstützung und das Mitfühlen aus. Im Gespräch mit anderen Betroffenen wird deutlich, dass man nicht allein ist und verstanden wird.
Durch die Kraft der Gemeinschaft wird die Gruppe stark und so jeder einzelne.
Axel Pieper
Durch den intimen Austausch entsteht oft eine enge Verbundenheit zwischen den Gruppenmitgliedern. „Da geht man manchmal nach dem Treffen auch noch einen Kaffee trinken oder ein Eis essen.“ Der Schritt zu Freundschaft ist da in manchen Fällen nicht mehr weit.
An der Wolfsburger Selbsthilfe-Szene, wie Pieper sie nennt, findet er den Zusammenhalt zwischen den Gruppen besonders schön. Den Grund für die auch gruppenübergreifende Gemeinschaft und gegenseitige Unterstützung sieht er in den gemeinsam genutzten Räumlichkeiten der Selbsthilfekontaktstelle. Dort halten viele Selbsthilfegruppen ihre Treffen ab und begegnen sich so auf den Fluren. Auch bei Festen, Workshops und Vorträgen, die die Selbsthilfekontaktstelle regelmäßig veranstaltet, treffen sich die verschiedenen Gruppen immer wieder.
Das ist ein bisschen wie eine große Familie hier.
Axel Pieper
Besonders in der Corona-Zeit ist ihm dies deutlich geworden. Unter den Corona-Maßnahmen konnten die Treffen nicht wie üblich abgehalten werden und es mussten neue Lösungen her. Dabei habe man sich auch gruppenübergreifend ausgetauscht und gegenseitig geholfen.
Auch dass Wolfsburg für seine Größe mit rund 100 verschiedenen Selbsthilfegruppen zu 60 bis 70 verschiedenen Themen breit aufgestellt ist, findet Pieper besonders. Und die Nachfrage ist groß. Die Selbsthilfegruppe „Seelentröster“ für Depressionen und Ängste beispielsweise erfährt so großen Andrang, dass ihre Gruppenleiterin beschlossen hat eine zweite Gruppe namens „Die Glückssucher“ ins Leben zu rufen.
„Wir sind häufig eine erste Anlaufstelle nach einer Diagnose“, berichtet Pieper. „Manchmal bekommen wir bis zu 120 Anfragen im Monat – per Mail, per Telefon, …. Dreiviertel der Leute können wir in eine Selbsthilfegruppe vermitteln.“ Für wen es keine passende Selbsthilfegruppe in Wolfsburg gibt, der wird beraten und weitervermittelt an überregionale Angebote, andere Beratungsstellen, Ärzte oder Therapeuten.
Währenddessen entwickelt sich das Angebot an Selbsthilfegruppen immer weiter. Denn jeder kann sich an die Selbsthilfekontaktstelle wenden und mit ihrer Unterstützung eine Selbsthilfegruppe zu dem Thema gründen, das das eigene Leben beeinflusst, um sich selbst und anderen Betroffenen zu helfen.
Interessierte können sich ganz einfach auf der Website www-selbsthilfe-wolfsburg.de, dem Informationskatalog „Wegweiser“ oder direkt bei der Selbsthilfekontaktstelle über die angebotenen Selbsthilfegruppen informieren. Die Teilnahme an den Selbsthilfegruppen ist kostenlos und unverbindlich.
Antonia Müller
09/2023
Titelbild: © Selbsthilfekontaktstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Niedersachsen e.V. – Kreisverband Wolfsburg